Einhorn-Ausstellung in Potsdam: Das Horn wie ein Turm im Mond
Gibt es das Einhorn vielleicht doch? Das Potsdamer Museum Barberini verfolgt in einer kühnen Schau die Geschichte des schillernden Fabelwesens in der Kunst.
Wollte man es nicht sogar gern für wahr halten, als einmal der Deutschlandfunk live von einer Einhornfarm berichtete? Zwei Jungtiere seien dort herangezüchtet worden, ein kleines Horn zeichne sich schon an ihrem Schädel ab. Und dann: Die Tiere würden auch Erdbeerpudding ausscheiden. Das war also doch nur Quatsch, eingereiht in den derzeitigen Triumphzug des Einhorns durch die Pop- und Warenwelt als Glitzerstaub pupsende, regenbogenfarbene, Gattungen und Geschlechter sprengende Figuration eines hedonistischen Ja zu allem – nur nicht zur AfD, wie ein zuckriges Exemplar zurzeit auf Stickern an Kreuzberger Straßenlaternen mit einem „Fuck“ dazu dahinzwinkert.
Seinen Sprung in die Dr.-Oetker-Fertigmischung für Desserts und auf wokes Guerilladesign machte das Einhorn aber aus einem kollektiven Bildgedächtnis mit sehr langer Vorgeschichte. Schon vor etwa 4.000 Jahren tauchte es in der Vorstellungswelt Indiens auf, so erfährt man jetzt mit wissenschaftlichem Ernst im Potsdamer Museum Barberini. Dort eröffnet nun die Ausstellung „Einhorn. Das Fabelwesen in der Kunst“.
Eine hochkarätige, kulturgeschichtliche Schau, sie zeigt Exponate aus der Zeit von 2000 vor Christus bis zur Kunst der Gegenwart, ohne jeglichen Pop und Einhorn-Klamauk. Das passt ins Programm des schwerreichen Unternehmers Hasso Plattner, Financier und Initiator des Barberini. Seit einigen Jahren steht sein Privatmuseum als rekonstruiertes Barockpalais am Alten Markt in Potsdam, wo davor noch ostmoderne DDR-Architektur stand, und schmeichelt sich mit gut gemachten Blockbuster-Ausstellungen selbst bei Rekonstruktionskritikern ein.
Auch die jetzige Schau verspricht ein Blockbuster zu werden. Einige der frühesten Abbildungen des Einhorns überhaupt kann man hier sehen. Ein nur fünf Quadratzentimeter großes Steinsiegel der Indus-Kultur, etwa winzig klein zeichnet sich darauf die Silhouette eines rindartigen Wesens ab, mit jenem einem Horn an der Stirn. Kaum zu erkennen ist die tierische Kreatur einer Grabfigur aus China von 200 v. Chr., aber schon, wie kampfesbereit sie ihr dolchförmiges Horn in die Luft stößt.
Von der Wundergestalt zum Schnuddel
Der Weg hin in die europäische Bildwelt um 1500, wo das Einhorn zu jener unschuldigen, Wunder vollbringenden Pferdegestalt werden konnte, dessen kommerzialisierter Schnuddel uns heute auf Fruchtgummitüten anlächelt, ist in der Ausstellung nur sprunghaft über die Jahrhunderte nachgezeichnet. Mittelalterliche Buchmalereien oder liturgische Geräte zeigen, wie ein einhörniges Tier, achtmal in der Bibel erwähnt, eine feste Figur im christlichen Bildkosmos war. Ganz selbstverständlich sitzt es neben Löwe und Bär, etwa in einer Darstellung der Schöpfungsgeschichte des flämischen Meisters Boethius von 1480, wie so häufig als Zicklein.
Zum christlichen Symbol wurde das Einhorn durch eine weit ins europäische Spätmittelalter verbreitete, theologische Naturkunde aus der Spätantike. Der sogenannte Physiologos fügte dem Tier nämlich eine Legende hinzu: Das wilde Wesen lebe frei in unbekannten Wäldern und könne nur von einer Jungfrau gefangen werden, in deren Schoß es zur Ruhe komme. Die Jungfrau identifizierten Theologen bald als Maria, das Einhorn als Jesus. Der musste aber in der Logik des christlichen Heilsgeschehens auch zum Opfer der Menschen werden. Das Rochester-Bestiarium aus dem frühen 13. Jahrhundert zeigt diese mystische Einhornjagd: Auf himmlisch goldenem Grund erlegt ein Ritter in Kettenhemd das schlafende Fabelwesen mit einer Lanze im Schoße Mariens. Das Glied des Tiers ist erigiert, die Jungfrau nackt, das ganze Bildgeschehen sexuell aufgeladen.
Es ist nun dieses schlüpfrige Motiv kurz vor der Tötung, Jungfrau und Tier mit Horn sind innig beieinander an einem paradiesischen Ort, das um 1500 überaus erfolgreich in der europäischen Bildproduktion war. Es erscheint variantenreich auf Wandteppichen, in privaten Stundenbüchern, auf Gemälden, selbst auf Spielkarten. Das Tier wird darauf zunehmend pferdeähnlich.
„Einhorn. Das Fabeltier in der Kunst“. Museum Barberini Potsdam, bis 1. Februar 2026. Katalog (Prestel Verlag): 49 Euro
Und die Maria kann auch einmal von einer anderen edlen Dame abgelöst werden. Wie auf der heute wohl berühmtesten Einhorn-Bilderreihe „La Dame à la licorne“ aus sechs meterhohen Wandteppichen im Pariser Musée de Cluny (die zu fragil ist, um sie nach Potsdam zu verleihen). Vor der verneigte sich Rainer Maria Rilke 1907 in einem Gedicht. Vom „weißen Tier“ schreibt er, „wie ein Turm im Mond, das Horn so hell“. In Potsdam stößt man später auf ein surrealistisches Gemälde René Magrittes von 1964, Dame und Pferd verschmelzen darauf zu einem Wesen, auf seiner Stirn erhebt sich nicht das Horn, sondern ein Turm.
Das Einhorn sei etwas Imaginäres gewesen, meint der französische Mediävist Michel Pastoureau, derart tief in der Vorstellung der Gesellschaften verankert, dass es sich in deren Wahrnehmung der Realität spiegele. So behauptet Marco Polo um 1300 in seinem Reisebericht aus Sumatra angesichts eines Nashorns, es sei ja „ausgesprochen hässlich. Diese Tiere haben mit unseren Einhörnern gar nichts gemein.“
Bis ins 17. Jahrhundert hinein glaubte man an die Existenz des Einhorns, zeigt die Ausstellung im Barberini. Der Stoßzahn des Narwals, von Reisenden und Händlern aus arktischen Gegenden nach Mitteleuropa gebracht, schien lange als Indiz dafür, man vermutete ihn dem Fabelwesen zugehörig. Das vermeintliche Horn wurde daher in den fürstlichen Wunderkammern der Neuzeit gesammelt und in Kirchenschätzen aufbewahrt. Geradezu mystisch erhebt sich jetzt der wahrhaftige, meterlange spiralförmige Stoßzahn des Meerestiers an einer Rückwand im Museum.
Genau dieses „Horn“ hing im Mittelalter in der Kirche Saint-Dénis bei Paris vor der Grablege der französischen Könige. Man versprach sich von ihm heilende Kräfte. In der Ausstellung sind noch Rezepte aus dem 16. Jahrhundert ausgelegt, wie sich denn aus dem Pulver eines solchen Horns der beste medizinische Cocktail herstellen lasse. Spiritualität und totale Weltlichkeit stehen beim Einhorn eben immer schon nahe beieinander.
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