Einkaufspaläste in Steglitz: Der ruinöse Wettbewerb

Die Schloßstraße hat sich binnen weniger Jahre zur Konsummeile Berlins gewandelt. Bald öffnet das vierte Einkaufscenter. Der interne Verdrängungswettbewerb ist in vollem Gang.

Manfred Herpolsheimer ist keiner, der sich die Butter vom Brot nehmen lässt. "Viele sind doch bisher dagestanden wie Kaninchen vor der Schlange", sagt der Seniorchef des Bastel- und Spielzeugladens "Werken-Spielen-Schenken" in der Steglitzer Schloßstraße. Er ist wütend über die benachbarten Einzelhändler und ihre ausbleibenden Reaktionen auf die Einkaufszentren-Schwemme entlang der Konsummeile. "Wir nicht. Wir bauen unser Geschäft uns, verlegen das Café nach vorn und beziehen den U-Bahnhof mit ein." Sagts und nimmt einen Schluck Cappuccino im hauseigenen Bistro.

Der 72-Jährige ist ein kräftiger Mann, die Arme gebräunt vom Segeln auf der Havel, der Blick klar. Herpolsheimer regt nichts zu sehr auf. Er ist zu lange im Geschäft; während um ihn herum Firmen kamen und gingen, Fassaden wechselten und die Klientel gleich mit, ist er geblieben. Der Bastelladen war stets auf Wachstumskurs.

Herpolsheimer sah die Anfänge des Konsumwandels auf der Flaniermeile. Er erlebte, wie das Einkaufszentrum "Schloss" am südlichen Ende der Straße mit seinen knapp 36.000 Quadratmeter Verkaufsfläche im März 2006 eröffnete. Es folgten die Renovierung des "Forum Steglitz" am nördlichen Ende der Straße sowie der Bau des "Schloss-Strassen-Centers" direkt daneben. Damit nicht genug: In der Mitte der gut einen Kilometer langen Konsummeile weicht derzeit das frühere Karstadt-Gebäude dem "Boulevard Berlin", der auf mehr als 60.000 Quadratmetern - fast doppelt so groß wie das "Schloss" - ab 2011 gehobene Shopping-Qualität anbieten will.

"Wir wollen nicht, dass die Kaufkraft abwandert", erklärt der zuständige Bezirksstadtrat Uwe Stäglin (SPD) die massive Aufrüstung in den vergangenen Jahren. In der Tat könnte der "Boulevard Berlin" sogar dem Kudamm das Wasser abgraben, sollte er die Versprechungen halten. Aus dem Umland lockt Steglitz-Zehlendorf, ohnehin mit einer im Bezirksvergleich überdurchschnittlichen Kaufkraft gesegnet, längst Tausende Verbraucher an. Sogar aus Brandenburg an der Havel kommen sie angereist, um dem Shoppingvergnügen zu frönen.

Dafür gibt es gute Gründe: Die Schloßstraße ist verkehrsgünstig gelegen für Autofahrer genauso wie S-, U-Bahn- und Busnutzer. Gleichzeitig ist sie ein Garant dafür, dass alles Gewöhnliche zu haben ist. Die Standard-Bekleidungsketten sind vertreten ebenso wie Elektronikmärkte, und in manche Traditionsgeschäfte zwischen den Zentren sind Filialen einer US-Kaffeekette gezogen.

Torsten Wiemken vom Deutschen Seminar für Städtebau und Wirtschaft (DSSW) warnt indes, die Stimmung könnte kippen. Die Kaufkraft werde nicht mehr zunehmen, sondern eben aus einem anderen Gebiet - etwa dem Kudamm oder der Wilmersdorfer Straße - abgezogen werden. Irgendwann fände sie ein natürliches Ende. Inzwischen machen sich die Zentren an der Schloßstraße auch untereinander Konkurrenz. Wiemken spricht von einer "Angebotsdoppelung": Zahlreiche Ketten sind mit zwei oder drei Filialen an der Straße vertreten. "Ob diese sich längerfristig halten können, wird man sehen", sagt der Stadtplaner.

Der "Boulevard Berlin" in der Mitte der Straße wird den Verdrängungswettbewerb weiter anheizen. Von "schierem Shoppingwahnsinn" sprechen bereits manche Experten, von völlig überdimensionierten Projekten und einem "Overstoring" - zu vielen Geschäften auf kleinem Raum. Selbst Baustadtrat Stäglin sagt: "Wenn der Boulevard Berlin kommt, sind die Reserven für die Schloßstraße erschöpft."

Bislang folgte die Entwicklung dem typischen Muster. Das "Schloss" kam, passend zum Trend der vergangenen Jahre hin zu innerstädtischen Zentren. Auf der "grünen Wiese" baut heute keiner mehr - das vor allem im Ostdeutschland der Nachwendezeit aufgetretene Phänomen gilt als flächenfressend, tödlich für die Innenstädte und überholt. Die Impulse des "Schloss"-Baus initiierten die Renovierung und Neueröffnungen auf der Straße Richtung Nordosten. Auch die teilweise Verdrängung wenig innovativer Traditionsgeschäfte im Dunstkreis der Magneten ist bekannt.

Steglitz könnte trotzdem Schule machen - als Beispiel, wie etwas aus dem Ruder laufen kann: Zu viel ist zu viel. Erster Verlierer könnte das "SSC" am nördlichen Straßenende sein. "Ich kann mir in dieser Konstellation nicht vorstellen, dass es für das Zentrum eine Zukunft gibt", sagt der Geograph Niklas Martin vom Institut Borchert GeoInfo. Das Schlimmste, was dem dreigeschossigen Haus passieren könnte, wäre ein langsames Veröden - wenn irgendwann die Billig-Bekleidungskette "New Yorker" der hochpreisigste Laden ist.

Das "Schloss" mit derzeit 25.000 Besuchern pro Tag wird wohl ein Renner bleiben, auch dank seiner "Erlebnisaktionen" an den Wochenenden und der längeren Öffnungszeiten freitags und samstags. Das "Forum" profitiert von seiner Tradition, der "Boulevard" spricht gehobene Klientel an und beherbergt zudem Karstadt als Kaufhaus.

Und die verbliebenen Einzelhändler zwischen den Konsumtempeln? SPD-Stadtrat Stäglin sagt zwar: "Der Verlust von Traditionsgeschäften lässt sich nicht allein mit dem Schloss erklären." Dass aber seit dem Zentren-Wahn die Mieten entlang der Straße gestiegen sind, kann auch er nicht leugnen. In den ehemaligen Fair-Trade-Laden, der die neuen Preise nicht zahlen konnte, ist eine Wurstwarenkette gezogen. Die Kaffeeläden mit den immer gleichen Konzepten sehen zwar erst einmal nicht schlimm aus, Leerstand gibt es entlang der Meile kaum. Aber es macht die Straße austauschbar und beliebig.

Auch Herpolsheimers Sohn Ingo bestreitet nicht, dass die Mieten entlang der Straße gestiegen sind oder noch steigen könnten. "Die Frage wird dann nur sein, ob sie überproportional zulegen", sagt der 43-Jährige, der sich mit seinem Vater die Geschäftsführung des Bastel- und Spielzeugladens teilt - und seinen pragmatischen Geschäftssinn geerbt hat. Ingo Herpolsheimer ist Sprecher der "AG Schloßstraße", einer Interessensgemeinschaft von 20 Geschäften nördlich und südlich der Tiburtiusbrücke. Unlängst hatte sich die AG um Fördermittel aus dem Programm "Aktive Stadtzentren" beworben; obwohl sie bei der Auswahl das Nachsehen hatte, sieht Herpolsheimer das Engagement positiv. "Wir haben immerhin 45 Anrainer akquiriert - mal sehen, ob die dauerhaft dabeibleiben."

Auch Mitglieder des zweiten Aktionskreises der Mittelständler, der "IG Seitenstraßen", beteiligten sich an der Bewerbung um das "Aktive Stadtzentrum". Sprecher Michael Stümpert teilt den Optimismus von Herpolsheimer nur bedingt - wohl auch, weil sein Geschäft "Pot & Pepper" weit weniger floriert als der massive Bastelladen direkt an der Schloßstraße.

Natürlich dürfe den Einkaufszentren nicht die alleinige Schuld an den ausbleibenden Kunden zugewiesen werden, sagt der schlanke Mann, der in Jeans und Pullover in seinem Gewürz- und Kochzubehörladen steht. An den Wänden des Feinschmeckerladens ziehen sich mannshohe Regale mit Gewürzgläsern und -dosen, auf Tischen sind Kochbücher und Küchenutensilien dekoriert. Stümpert hängt an seinem Laden, von ihm leben kann er nicht. Geld verdient er mit seinem zweiten Job im Veranstaltungsbereich. "Die Laufkundschaft hat deutlich abgenommen", sagt er. Die Einkaufszentren locken teils mit kostenlosen Parkplätzen; da mache sich kaum noch einer Mühe, einen Blick in die Seitenstraßen zu werfen. "Wenn, dann sind es Touristen, die interessieren sich noch am ehesten für den zweiten Blick abseits der Hauptstraße." Stümpert wünscht sich mehr Engagement von den Mitgliedern der IG; gerade ein gemeinsamer Auftritt mit Werbetafeln am Bürgersteig der Schloßstraße wäre seiner Ansicht nach nötig, um Passanten auf das Angebot in den Seitenstraßen aufmerksam zu machen.

Einig sind sich Stümpert und Manfred Herpolsheimer in der Kritik an den Ladenvermietern. Sie müssten mehr Einsicht zeigen und die Vielfalt fördern. "Überall ein Telefonladen, das geht ja nicht", sagt der Seniorchef des Spielzeugladens. So kurz könne keiner denken. "Dann sinken die Mieten ganz schnell wieder", ist er sich sicher.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.