Einzigartiges Erbe: „Der Senat sah die Vorteile"

Der jüdische Friedhof in Hamburg-Altona soll als Unesco-Welterbe anerkannt werden. Michael Studemund-Halévy erklärt, warum

Manche Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof Altona erzählen ganze Biografien. Bild: dpa

taz: Herr Studemund-Halévy, was ist am jüdischen Friedhof in Altona so besonders?

Michael Studemund-Halévy: Er ist – neben einem kleineren in Glückstadt – der einzige deutsche Friedhof mit Gräbern jüdischer Portugiesen beziehungsweise Sepharden. Als er 1611 gegründet wurde, 15 Jahre nach Ankunft der ersten von der iberischen Halbinsel vertriebenen Sepharden, lag er noch im dänisch regierten Altona. Altona wurde erst durch das Groß-Hamburg-Gesetz von 1937 ein Teil Hamburgs.

Der Friedhof ist nicht nur alt, sondern auch „ökumenisch“.

Ja, auf ihm liegen sephardische und aschkenasische respektive deutsche Juden. Im älteren, sephardischen Teil existieren noch 2.000 Grabstellen, im jüngeren, aschkenasischen gut 6.000. Auch diese Kombination ist selten.

„Aschkenasen“, die Juden Mittel-, Nord- und Osteuropas, heißen auch „deutsche Juden“.

Weil sie das mit dem Deutschen verwandte Jiddisch sprachen. „Ashkenas“ bedeutet auf Hebräisch „Deutschland“. Korrekt müsste es „osteuropäische Juden“ heißen.

Haben sich Sepharden und Aschkenasen vertragen?

Nicht besonders. Die Sepharden sahen auf die Aschkenasen hinab – wie stets die ersten Immigranten auf die nachfolgenden herunterschauen, weil sie fürchten, dass man ihnen den Status streitig macht.

Unterscheiden sich die Gräber der beiden Gruppen in Altona?

Die Sepharden verwandten wertvolle Materialien wie Carrara-Marmor, denn sie waren anfangs wohlhabender als die Aschkenasen. Außerdem nutzten sie liegende Pyramidalgräber, die Zelten ähneln. Die Aschkenasen haben aufrecht stehende Steine.

Ist auf den Steinen Unterschiedliches zu sehen?

Ja. Die sephardischen Grabsteine zeigen detaillierte Darstellungen biblischer Geschichten und Menschen. Heißt ein Verstorbener Abraham oder Isaak, wird das Isaak-Opfer dargestellt. Heißt einer Joseph, sieht man einen Brunnen, bei Daniel eine Löwengrube. Solche naturalistischen Darstellungen waren für aschkenasische Juden undenkbar.

Warum?

Weil die Aschkenasen, die ab 1648 vor Pogromen in Weißrussland und der Ukraine flohen, sehr orthodox waren. Sie hielten sich streng an das Verbot von Menschendarstellungen.

Und warum sind die Altonaer Sephardengräber derart weltlich?

Unter anderem, weil sie noch gar nicht lange jüdisch und also mit dieser Tradition wenig vertraut waren. Es ist ja ein Friedhof der Ex-Marranen, das heißt der iberischen Juden, die 1497 zwangsgetauft wurden. Als Portugal 1580 spanisch wurde, mussten sie trotzdem fliehen, weil die Inquisition in Spanien und Portugal eine rassistische war.

Wie willkommen waren diese Glaubensflüchtlinge dann im erklärt protestantischen Hamburg?

Für die Kirche war es ein Problem, aber der Senat sah die Vorteile. Die Sepharden hatten florierende Handelskontakte, wurden also unter bestimmten Bedingungen geduldet. Konkret bekamen sie alle fünf Jahre einen besonderen Vertrag, ein „Privileg“, in dem stand, was sie durften – und was nicht.

Welche Berufe hatten diese Menschen?

Die erste Generation war eine Elite-Generation: Ärzte, Großkaufleute, Gelehrte …

Hatten sie auch die besten Plätze auf dem Friedhof?

Sowohl bei den Sepharden als auch bei den Aschkenasen gab es Ehrenreihen etwa für Rabbiner. Dann gab es die „Leviten“ – ich als „Halevy“ gehöre auch dazu: Wir mussten beim Betreten des Tempels Wasser über die Hände des Rabbis gießen. Eine Demutsgeste. Deshalb ist auf den Leviten-Grabsteinen eine Kanne abgebildet. Teils kann man ganze Biografien aus den Steinen ablesen.

Die stehen da aber nicht einfach drauf.

Nicht explizit, aber wenn man den Friedhof zu lesen versteht, kann man ganze Dynastien finden. Zum Beispiel die Familie De Castro, die 400 Jahre lang Ärzte hervorbrachte und noch heute in Hamburg lebt: Einer der ersten berühmten portugiesischen Ärzte in Hamburg hieß Rodrigo De Castro. Er war Frauenarzt, pflegte musiktherapeutische Ansätze und hat ein Buch über die Behandlung der Pest geschrieben. Über das Areal des Altonaer Friedhofs verteilt finden Sie Gräber von ihm und seiner Familie.

Auch in der Karibik gibt es sephardische Friedhöfe. Haben die etwas mit Hamburg zu tun?

Ja. Wenn die jungen Männer Unfug gemacht hatten, wurden sie oft in die Karibik geschickt, in die niederländischen oder portugiesischen Kolonien wie Barbados, Curaçao, Surinam. Manche ihrer Nachfahren kehrten zurück: Im portugiesischen Teil des neuen jüdischen Friedhofs an der Hamburger Ihlandkoppel sieht man kostbare Sephardengräber. Sie stammen von Verbannten, deren Familien im 19. Jahrhundert als wohlhabende Kaufleute wiederkamen.

Wie waren sie wohlhabend geworden?

Unter anderem durch Zuckerhandel, Piraterie und Sklavenhandel. Juden waren daran sehr beteiligt. Das sagt man heute nicht mehr gern, aber es war eindeutig so.

Wie lange prägten die – nicht verbannten – Sepharden die Altonaer Community?

Bis zum ausgehenden 17. Jahrhundert. Um 1690 verlangte der Hamburger Senat mehr Steuern, woraufhin viele nach Amsterdam zogen. Als sie weg waren, gab es in Hamburg den ersten Börsenkrach. Die Sepharden wurden weniger und verarmten, während die Aschkenasen zu Wohlstand kamen.

1869 wurde der Altonaer Friedhof geschlossen. Warum?

Weil der Hamburger Senat im Stadtteil Ohlsdorf einen neuen Friedhof bauen und den Juden dort ein Areal anbieten wollte. Die Sepharden waren einverstanden, aber die konservativen Aschkenasen wollten das nicht. Der Altonaer Friedhof war – wie es die Tradition verlangt – den Juden auf Ewigkeit verkauft, der in Hamburg aber nicht. Die Aschkenasen haben dann im benachbarten preußischen Langenfeld ein Grundstück auf Ewigkeit erworben.

Was passierte in der NS-Zeit mit dem Altonaer Friedhof?

64, Verlagslektor, Redakteur, Publizist, Übersetzer und Dozent, studierte in Bukarest, Lausanne, Lissabon, Perugia und Hamburg. Er ist seit 1990 Eduard-Duckesz-Fellow am Institut für die Geschichte der deutschen Juden und Lehrbeauftragter für Judenspanisch an den Jüdischen Summer Schools der Universitäten München und Wien.

Ende 1942 wurden alle jüdischen Friedhöfe in Deutschland enteignet und dem NS-Staat überschrieben. Dass die meisten trotzdem nicht zerstört wurden, liegt daran, dass man anderes tat: Menschen umbringen. Etliche Steine des aschkenasischen Teils des Altonaer Friedhofs wurden dann durch die Bombardierungen 1943/44 weitgehend zerstört.

Und nach dem Zweiten Weltkrieg?

Da es keinen Zaun mehr gab, lag der Friedhof ungeschützt, sodass auch Steine gestohlen wurden. 1960 hat Hamburgs Senat den Friedhof unter Denkmalschutz gestellt und in den 1980er-Jahren zu restaurieren begonnen. Ab 1990 habe ich für das Institut für die Geschichte der deutschen Juden die sephardischen Gräber erforscht. 2000 hat das Duisburger Salomon-Ludwig-Steinheim-Institut dasselbe für den aschkenasischen Teil getan und alle Inschriften ins Internet gestellt. Die Sephardeninschriften werden folgen. Damit ist dieser jüdische Friedhof der weltweit am besten erforschte.

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