Eisfabrik Berlin: Letzte Nischen, heiß umkämpft

Graffiti, Partymüll und fotografierwütige Touris: Für die einen ist die Eisfabrik-Ruine eine hippe Kulisse, für andere ein karges Zuhause auf Zeit.

Die in der Eisfabrik-Ruine lebenden Roma trocknen ihre Wäsche im Hof. Bild: steffen schuhmann

BERLIN taz | Letztes Abendlicht. Das Dach der Berliner Eisfabrik. Geräusch einer Spraydose, dieses Zischen des Ventils, wenn man auf den Sprühkopf drückt. Man kann den Fernsehturm sehen und die Dachpappe riechen. Für einen Moment lang hat man das Gefühl, Berlin wäre noch so, wie es vor zehn Jahren war, und alles sei gut. Ein Mädchen mit sehr langen Haaren lässt sich nah der Dachkante fotografieren. „Geil“, sagt ein Junge. „Das is noch Berlin. Das letzte Reservat.“

Tatsächlich ist die verlassene Fabrik in der Köpenicker Straße eine der letzten ihrer Art. Ein Ziegelgebäude mit einem imposanten Schornstein, in dem hundert Jahre lang Eisstangen zur Kühlung von Lebensmitteln gefroren wurden. Bis in den 90er Jahren der Betrieb aufhörte – wie in allen Fabriken zwischen Fischerinsel und Oberbaumbrücke.

Den Spreestrand eroberten die Aussteiger, Streetartkünstler und Abenteurer, was nicht weiter erwähnenswert wäre, denn die Strandbars und Ruinenparadiese an diesem Ufer sind sattsam bekannt. Die Marke hippes Berlin, Stadt der Freiräume, wurde vor allem hier geschaffen. Besonders ist nur, dass Berlins Brachen inzwischen fast alle geräumt wurden – nur die Eisfabrik ist noch übrig.

Die Eisfabrik – einst Norddeutsche Eiswerke AG und später VEB Kühlhaus – steht in der Köpenicker Straße in Berlin-Mitte. 1995 ging sie in den Besitz der Treuhandliegenschaftsgesellschaft (TLG) über, die sie 2006 zugunsten hochpreisiger neuer Wohnungen am Wasser abreißen lassen wollte. Allerdings erhielt sie nur für einen Teil des Ensembles eine Abrissgenehmigung. Der Rest der Fabrik sei zu erhalten, entschied der Denkmalschutz.

Diesen veräußerte die TLG an den Investor Telamon aus Bochum, der eine kulturelle Nutzung plante. Seither liegen jedoch beide Planungen brach, denn die bundeseigene TLG wurde im vergangenen Jahr an die private Gesellschaft Lone Star verkauft, und diese zögert, was weiterhin geschehen soll. Telamon-Geschäftsführer Thomas Durchlaub sagt, beide Grundstücke könnten nur in Abstimmung miteinander entwickelt werden. Sein Gelände verfüge nicht einmal über eine eigene Zufahrt.

Weil zwei Eigentümer sich nicht einig werden, was mit dem Gelände passieren soll, passiert nichts. Dass hier noch der Knöterich wächst, hat sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Wer Berlinruine will, kommt hierher.

Dreckiger als in Neapel

Und schon deshalb ist nichts wie es war, und nichts ist gut. Denn wenn sich alle, die eine Nische suchen, an ein und derselben Stelle versammeln, klappt das nicht wirklich. Die Sprayer, die gerade den Schornstein neu gestalten, müssen aufpassen, sich nicht gegenseitig vom Dach zu schubsen. Einer mit Rastahaaren, der unentwegt etwas in eine uralte gelbe Schreibmaschine tippt, hat seine Bastmatte an der alleräußersten Dachkante ausgerollt und versucht, entrückt zu gucken.

Derweil entert eine Gruppe in Holzfällerhemden und Chucks das Dach. Sie diskutieren lauthals und trollen sich gleich wieder. „Nicht cool, total verdreckt“, erklärt einer von ihnen. Ein blasses Mädchen, das aus Neapel kommt, sagt, noch nie in ihrem Leben hätte sie so viel Müll gesehen. Tatsächlich liegen hier Sektflaschen, Weinflaschen und Pappen von Sixpackträgern kniehoch. „Außerdem stinkt es“, sagt das Mädchen, das Helena heißt. Sie hat Recht.

Im Treppenschacht riecht es, als hätte eine ganze Loveparade einen Monat lang in dieselbe Ecke gepisst. „Leiche“, sagt Helena. Aber „Bierblase“ trifft es wohl besser. Es ist duster, überall liegen Scherben, eine Ratte flüchtet. Das Treppenhaus führt auf einen Flur, der in einen Lichtschacht blickt. Hinter Fenstern, die keine Scheiben mehr haben, kann man hier und da Feuer brennen sehen. Helena meint, das seien die Feuer der Obdachlosen. Die wären es auch, die ins Treppenhaus kackten, und von denen kämen der ganze Müll und die Ratten.

Das Feuer brennt in einem kleinen Campinggrill, der in einer Halle steht, die sich an den Flur anschließt. Drei Männer und eine Frau sitzen an einem Klapptisch. Zwei stellen sich als Albert und Konstantin vor. Sie wohnen hier, ja natürlich. Ob wir stören? Nein. Sie seien es schon gewohnt, Besuch zu kriegen. Hier käme dauernd irgendwer vorbei. Sprayer, die fast täglich neue Bilder sprühen. Die ganzen jungen Leute von überall her, die von allem Fotos machen. Im Grunde störe das nicht. Nur in der Nacht sei es manchmal laut. Sie wollen schlafen, die jungen Leute feiern. Und öfter mal pinkelten welche von denen im Suff ins Treppenhaus statt das Klo zu benutzen, das Konstantin im Hof gebaut hat. Aber schlimmer wären die Ratten und der Müll.

In Dobritsch haben sie "gar nichts"

Albert und Konstantin kommen aus Dobritsch, einer Stadt in Bulgarien. Sie sind Roma mit türkischen Wurzeln – eine ganze Gruppe, die seit etwa zwei Jahren in Berlin lebt. Noch im letzten Sommer hätten sie in verschiedenen Gebäuden rund um den Ostbahnhof gewohnt. Bis eins saniert und ein anderes abgerissen wurde. Deshalb seien die ersten von ihnen in die Eisfabrik gekommen, hätten eine Hütte in eine der Hallen gebaut, einen Allesbrenner reingestellt und hätten hier überwintert.

Zur ersten Hütte sind weitere gekommen. Die meisten von ihnen sind so groß, dass ein Bett und die persönliche Habe eines Bewohners hinein passen. Der eigentliche Wohnbereich liegt vor den Verschlägen: so wie diese Essgruppe hier. In der Grillschale lecken die Flammen, Albert schürt, draußen dämmert es. Die Atmosphäre könnte fast privat sein, würden nicht dauernd Grüppchen von Zwanzigjährigen durchs Esszimmer gehen.

Albert beachtet sie nicht. Die Roma haben andere Sorgen. Ihre Hauptsorge ist, dass sich auch diese Nische wieder schließt, dass die Fabrik noch vor dem Winter geräumt werden könnte und sie weiter ziehen müssen. Nicht, dass sie die Fabrik lieben würden. Im Gegenteil. Aber so wie die Sprayer, Touristen und Romantiker brauchen sie die letzte Ruine an der Spree.

An Albert fällt auf, dass sein Äußeres in starkem Gegensatz zum Ruinenschmuddel und Feuerruß steht. Er trägt ein T-Shirt, das tatsächlich weiß ist, dazu Turnhosen und eine Lederjacke in Beige. Er ist ein kräftiger Mann, der auch im Sitzen so wirkt, als wollte er gleich aufspringen und irgendwas packen – ein Rugbyei zum Beispiel.

Dabei erzählt er, wie er zurande kommt. Vom Kupfersammeln, das pro Kilo drei Euro einbringt. Von Jobs auf dem Bau und von den Schwierigkeiten, ohne Meldeadresse feste Arbeit zu kriegen. Von seiner Siedlung in Dobritsch, wo sie gar nichts haben – und von Deutschland, wo sie versuchen, mit Schrottsammeln und Gelegenheitsjobs etwas Geld anzusparen. Damit würden sie irgendwann eine richtige Wohnung mieten können, mit der Adresse wiederum können sie ein Gewerbe anmelden, und als Selbständige dürfen Bulgaren in Deutschland legal arbeiten.

Jemand legt Feuerholz nach. Albert redet weiter. Er mag Worte wie „legal“, „Gewerbeschein“ und „EU-Bürgerschaft“. Dass die Bulgaren auch wie EU-Bürger behandelt werden, ist für ihn nur eine Frage der Zeit. Bis dahin muss man durchhalten. Er klingt wie aus der Generation unserer Großväter, die von der harten Nachkriegszeit erzählen. Nur, dass die vermutlich ihr Abendessen nicht in Ruinen am offenen Feuer zubereitet haben. Und falls doch, wäre keine Japanerin vorbeigekommen, die von ihnen und ihrem Grillfeuer ein Foto macht. Im Hintergrund ein Graffiti mit den Buchstaben „Freaks“.

Vierzehn Eimer Wasser

„Ich zeig euch was“, sagt Albert. Es geht wieder zurück durch den Flur, wo zwei Basecapträger gerade eine Wand für ein neues Bild grundieren. Eine weitere Halle schließt sich an, groß wie ein Museumssaal. Der Boden ist blank, wie gefegt. „Das hab ich gemacht“, erklärt Albert. „Bevor ich meine Hütte gebaut habe, hab ich sauber gemacht.“ Denn als er hier ankam, türmten sich in Brusthöhe Flaschen, Getränkekisten, modernde Sofas und Matratzen.

Er hat keine Ahnung, wo das Zeug herkam. Viel wichtiger war ihm, es rauszuschaffen. Er hat einen alten Couchtisch aus dem Müll gezogen und ihn wie einen Schneeschieber benutzt. Einfach alles nach draußen geschoben. Und dann mit Wasser hinterher. 14 Eimer.

Erst dann hat er hier aus Sperrholz sein Haus errichtet. Er kramt einen Schlüssel hervor und schließt auf: Drinnen stehen Schuhe sauber aufgereiht. Alberts Turnschuhe, seine Puschen und ein paar Damenschläppchen. Seine Frau aus Bulgarien ist gekommen, erzählt er. Stolz. Er hat Laminat verlegt und ein weißes Ehebett aufgetrieben, eine rosa Decke darauf ausgebreitet und einen Blumenschmuck angebracht. In einer Ecke gibt es eine Vitrine mit Nippes.

Weil es langsam spät wird, bringt Albert seine Gäste nach draußen. „Zur Tür“ kann man schlecht sagen, weil es keine Tür mehr gibt. „Passt auf euch auf“, sagt er. „Lasst euch nicht von den Ratten fressen.“ Denn der Keller und das Ufer gehören den Ratten. In der Dämmerung, wenn sich die Müllhaufen vor der Tür vor lauter Ratten heben und senken, wirft er gern mit Steinen nach ihnen. Wenn es nach Albert ginge, könnte die ganze Fabrik gerne abgerissen werden. Oder gesprengt werden. Er stellt sich vor, wie die Ratten explodieren.

Am besten fände er, wenn der Berliner Senat ihnen ein Ersatzhaus geben würde, damit sie als EU-Bürger einen Platz zum Wohnen hätten. Aber ein sauberes, schönes Haus, mit Laminat.

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