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Eltern deutsch-israelischer Geisel„Deutschland könnte definitiv mehr tun“

Die Eltern der von der Hamas am 7. Oktober 2023 entführten Geisel Itay Chen fordern wirtschaftliche Sanktionen von Deutschland.

Itay Chen ist seit 671 Tagen eine Geisel der Hamas: Seine Eltern Ruby und Hagit Chen fordern, dass Deutschland aktiver wird Foto: Nicholas Potter
Nicholas Potter
Interview von Nicholas Potter

taz: Herr Chen, Frau Chen, Ihr 19-jähriger Sohn Itay ist einer von sieben deutschen Staatsbürgern, die in Geiselhaft in Gaza sind. Tut Deutschland genug für ihre Freilassung?

Hagit Chen: Wir erfahren viel Empathie und emotionale Unterstützung, schon von der vorherigen Regierung. Der deutsche Botschafter in Israel, Steffen Seibert, ist in regelmäßigem Austausch mit uns und den anderen den Geisel-Familien.

Im Interview: Hagit Chen

55, arbeitete vor dem 7. Oktober im Social-Media-Bereich für diverse Unternehmen. Sie wurde in Israel geboren,ihre Mutter in Bad Reichenhall in Bayern.

Ruby Chen: Aber die deutsche Regierung war bislang nicht aktiv genug. Sie spricht zwar mit den katarischen Vermittlern. Wir hoffen aber, dass die neue Regierung unter Merz mehr tun wird. Vergangenen Freitag trafen wir den Außenminister und sagt­en ihm das persönlich. Ja, diese sieben Geiseln haben die doppelte Staats­bürgerschaft, aber das macht sie nicht weniger deutsch als alle anderen, die in Deutschland leben. Es ist nicht allgemein bekannt, aber am 7. Oktober wurden etwa zwei Dutzend deutsche Staatsbürger von der Hamas getötet.

taz: Was soll die deutsche Regierung konkret tun?

Im Interview: Ruby Chen

57, arbeitete vor dem 7. Oktober im Fintech-Bereich, heute fordert er wirtschaftliche Sanktionen gegen die Hamas. Er wurde in New York geboren.

Ruby Chen: Deutschland könnte als führende Wirtschaftsmacht und diplo­matische Stimme in der EU definitiv mehr tun, wenn es um wirtschaftliche Sanktionen geht. Die Daten zeigen, dass die Hamas selbst heute noch in der Lage ist, ihren Anhängern im Gazastreifen monatlich zwischen 10 und 20 Millionen Dollar zu zahlen. Woher kommt dieses Geld? Die Hamas nutzt verschiedene Wege, um sich Zugang zu einem globalen Netzwerk zur Finanzierung des Terrorismus zu verschaffen – etwa in der Türkei, wo heute viele Hamas-Führer leben, die für die Tötung deutscher Staatsbürger mitverantwortlich sind. Die Frage lautet: Ist Deutschland bereit, sein politisches Kapital gegenüber der Türkei einzusetzen, damit sie aufhört, als Drehscheibe für finanzielle Hilfe für die Hamas zu fungieren?

taz: Vergangene Woche veröffentlichten der Palästinensische Islamische Dschihad und die Hamas zwei Videos der ­Geiseln Rom Braslavski und Evyatar David – Ersterer ist ebenfalls deutscher Staats­bürger. Wie haben Sie sich beim Ansehen dieser Videos gefühlt?

Hagit Chen: Ich habe an­gefangen zu weinen, als ich sah, wie dünn Evyatar geworden ist. Das ist unmenschlich. Die ­Hamas hat offensichtlich Essen. In einer Szene des Videos sieht man den Arm des Terroristen, der so breit wie Evyatars Bein ist. Sie lassen die Geiseln also absichtlich verhungern. Diese ­Videos haben in Israel für Unruhe gesorgt, der Druck auf die Regierung wächst.

Ruby Chen: Die Videos zeigen, wie verheerend die Lage für die restlichen Geiseln ist. Es herrscht ein Gefühl der Dringlichkeit. Wir dachten, dass das Video eines deutschen Staatsbürgers die deutsche Regierung zum Handeln motivieren würde – oder zumindest dazu bewegen würde, mehr zu sagen. Wir danken der deutschen Regierung dafür, dass sie sich nicht den anderen europäischen Staaten angeschlossen hat, die nun einen palästinensischen Staat anerkennen wollen.

taz: Warum?

Ruby Chen: Für uns ist die Freilassung der Geiseln sowie eine Lösung der humanitären Krise in Gaza die Voraussetzung für jede Art von Diskussion.

taz: Familien der Geiseln ­haben den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu wiederholt kritisiert, weil er ihrer Meinung nach unerreichbare Kriegsziele über die Freilassung der Entführten stellt. Sehen Sie das auch so?

Ruby Chen: Ja. Enttäuscht will ich nicht sagen – das, was die Netanjahu-Regierung bei mir auslöst, ist so viel stärker. Er ist mitverantwortlich für diese Gräueltaten, er hat uns am 7. Oktober nicht geschützt. Ja, die Hamas ist daran schuld. Aber es liegt ein Vertragsbruch zwischen der Regierung und ihrem Volk vor, wenn sie nicht in der Lage ist, uns zu schützen. Die Regierung muss das ändern, indem sie der Freilassung der Geiseln Priorität einräumt. Wenn der Premierminister nach 22 Monaten immer noch behauptet, dass die Hamas eine unmittelbare, strategische Bedrohung für die nationale Sicherheit Israels darstellt, dann muss man sich fragen, was die IDF in den letzten 22 Monaten eigentlich gemacht hat.

Hagit Chen: Nach 671 ­Tagen gibt es keine Ausreden mehr, diesen Krieg nicht zu be­enden. Von den 50 Geiseln leben ­einige noch, andere sind ­ver­storben. Doch sie alle ­müssen nach Hause kommen. Auch die Geiseln, die nicht mehr am ­Leben sind, bezeichnen wir als Geiseln – sie verdienen ein ­angemessenes Begräbnis und die Ehre und den Respekt, die ihnen als Menschen zustehen.

taz: Netanjahu hat nun angekündigt, den Gazastreifen zu besetzen. Viele warnen, dass das die Geiseln weiter gefährden wird, da die Hamas-Kämpfer angewiesen sind, sie zu töten, wenn die IDF zu nahe kommt. Wie stehen Sie zu diesem Plan?

Ruby Chen: Ich würde vorsichtig sein, solche Medien­berichte für bare Münze zu nehmen. Damit das passiert, müsste einiges vorher passieren, unter anderem eine große Mobilisierung. Das sehen wir momentan nicht. Der Plan stünde auch im Konflikt mit einem Meeting zwischen Herrn Witkoff [einem Sondergesandten Donald Trumps; Anm. d. Red.] und uns am Samstag in Tel Aviv. Er sagte nämlich, dass es nun darum gehe, auf einen Schlag den Konflikt zu beenden und alle Geiseln zu befreien. Wir haben ihn mehrfach gefragt, ob dies in Abstimmung mit Netanjahu und Israels Chefverhandler geschieht, und er bejahte dies. Insofern sind wir Geisel-Familien sehr irritiert über die Meldung zu diesem Besetzungsplan.

taz: Ihr Sohn Itay wurde am 7. Oktober 2023 entführt. Im März vergangenen Jahres bestätigte die israelische Armee, dass er bereits beim Hamas-Angriff an diesem Tag getötet wurde.

Hagit Chen: „Bestätigt“ ist ein großes Wort, wir sagen benachrichtigt. Belege dafür lieferte die Armee nicht. Es bleibt deshalb immer der Zweifel, dass ­jemand einen Fehler gemacht haben könnte und Itay sich in den Tunneln unter Gaza befindet und uns gerade in diesem Moment zuhört. Das wissen wir schlicht nicht, bis er zu uns wiederkommt. Was Itay jetzt vor allem definiert, ist, dass er Geisel ist.

taz: Die Hamas betrachtet Soldaten wie Itay als Kombattanten, die legitime Ziele in einem Krieg seien.

Ruby Chen: Es gab am Morgen des 7. Oktobers keinen Krieg, sondern einen Waffenstillstand, den die Hamas gebrochen hat. Itays Einheit war nicht in einer offensiven Position, sondern sie haben Zivilisten in Israel sowie diesen Waffenstillstand geschützt. Die Hamas entführte ihn und verwehrte entgegen internationalem Recht jeglichen internationalen Kontakt oder medizinische Versorgung der Geiseln. Die Hamas hat kategorisch jede Einhaltung der Grundprinzipien abgelehnt, die wir als zivilisierte Menschen haben. Warum glaubt die Hamas, dass sie Tote als Verhandlungsmasse einsetzen sollte? Welche legitime Organisation tut so etwas? Ich denke, dass die internationale Gemeinschaft diesbezüglich eine viel stärkere Stimme haben sollte. Sie hat uns stattdessen im Stich gelassen.

Hagit Chen: Als die Hamas am 7. Oktober angriffen, war Itay auf der Militärbasis in Nahal Oz. Wir haben inzwischen die zweieinhalbstündige Aufnahme der Blackbox im Panzer gehört, in dem er gegen die Terroristen kämpfte, bevor er verschleppt wurde. Er und die drei anderen Soldaten im Panzer sind Helden, sie haben Leben gerettet – und sie verstanden schnell, was die Hamas an diesem Tag vorhatte. Am nächsten Tag wurde uns mitgeteilt, dass Itay vermisst wird. Ein paar Tage später galt er als Geisel.

taz: Wie hat die Entführung Ihres Sohnes Ihre Familie verändert?

Hagit Chen: Alles hat sich verändert. Wir pendeln ständig zwischen Israel, Washington, Berlin, Doha. Wir haben auch zwei weitere Söhne. Es ist hart, in einer Familie aufzuwachsen, wenn die Eltern so gut wie nie da sind. Und es ist unmöglich, weiterzuarbeiten.

Ruby Chen: Das hier ist jetzt unser Job: die Geiseln nach Hause zu bringen.

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