Entsolidarisierung wird konsensfähig: Helfen bedeutet also verlieren

Aus einem sozialen Wert ist ein ökonomisierbarer Wert geworden, wie Spendengelder zeigen. Die „Zärtlichkeit der Völker“ wird so beschädigt.

Für Solidarität gibt es Bilder – für Entsolidarisierung nicht. Bild: dpa

Der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich findet es „unbegreiflich“, dass Europa-Politiker von Deutschland in der Flüchtlingspolitik mehr Solidarität fordern.

Gemeint ist nicht die Solidarität mit den Flüchtlingen, sondern mit den Ländern, die EU-Außengrenzen haben und in denen viele Flüchtlinge ankommen. Diese Länder nämlich müssen Wege finden, mit den Flüchtlingen umzugehen. Im Klartext heißt das: Sie wollen Wege finden, diese schnellstmöglich wieder loszuwerden. Und dabei sollen ihnen die anderen Länder helfen – indem sie etwa mehr Flüchtlinge aufnehmen oder mehr Geld geben.

Mehr Flüchtlinge, weniger Flüchtlinge.

Mehr Geld, weniger Geld.

Mehr Solidarität, weniger Solidarität.

Ein afrikanischer Flüchtling wagt erneut die gefährliche Überfahrt von Marokko nach Spanien. Dieses Mal will er es professioneller angehen. Ob er so die Angst und das Risiko überwinden kann, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 19./20. Oktober 2013. Außerdem: Wird man da irre? Ein Schriftsteller über seinen freiwilligen Aufenthalt in der Psychiatrie. Und: Vater und Sohn – Peter Brandt über Willy Brandt, den Kanzler-Vater. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Egal aus welchem Blickwinkel: Das Verhalten der Politiker zeigt, dass aus einem sozialen Wert – der Solidarität – längst ein quantifizierbarer und ökonomisierbarer Wert wurde.

Um keiner falschen Romantik anzuhängen: Auch Spendengelder etwa, die gesammelt und in einen Krisenherd geschickt werden, sind ökonomisierte Solidarität. Jeder gibt, was er kann. „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“, lautet ein viel zitierter Satz von Che Guevara.

Im Falle der Einlassung von Innenminister Friedrich wird jedoch nicht darüber verhandelt, was man tun und geben kann, sondern es geht um das Gegenteil: dass man nichts tun und nichts geben will und dass das zum einen moralisch begründbar und zum anderen mit Zahlen belegbar ist. Deutschland, sagt Friedrich, nehme mehr Flüchtlinge auf als jedes andere Land. (Was er nicht macht: diese Zahlen in Beziehung zur Einwohnerzahl oder zur Wirtschaftsleistung zu stellen.) Zwänge, die durch Zahlen entstehen, begründen, warum nicht Solidarität, sondern das Gegenteil, Entsolidarisierung, richtig – und damit positiv bewertet – ist.

Für Solidarität gibt es Bilder: Hände, die geschüttelt, Bruderküsse, die getauscht, Menschenketten, die gebildet werden. Es gibt Parolen, es gibt Lieder. „Vorwärts, und nie vergessen / Worin unsre Stärke besteht! / Beim Hungern und beim Essen / Vorwärts, nicht vergessen / Die Solidarität!“ Brecht schrieb den Text für das Solidaritätslied.

Vowärts, nicht vergessen

Für Entsolidarisierung aber gibt es keine Lieder, keine Bilder, schon gar keine mit Menschen. Nur ein reißendes Seil vielleicht.

Im „Kompendium der Soziologie I: Grundbegriffe“ wird erklärt, warum Solidarität so wohlwollend aufgenommen wird, warum sich die Menschen danach sehnen und ihr moralisch einen hohen Wert beimessen. Es heißt: „Gerade bei dem Begriff der Solidarität kann man sehen, wie emotionale Haltungen und Bindungen zum Wert deklariert werden und umgekehrt ein Wert emotional aufgeladen und fundiert wird.“ Und weiter: „Dieser Wertzusammenhang verweist aber auf Kultur.“

Wenn das stimmt, schließt sich die Frage an, wie sich unsere Kultur entwickelt, wenn Entsolidarisierung nunmehr werthaltig, ja offenbar bereits so konsensfähig ist, dass es kein Tabu mehr ist, sie einzufordern? Eingefordert wird Entsolidarisierung, wenn Fischer im Mittelmeer mit Konfiszierung ihrer Kutter und Geldstrafen rechnen müssen, wenn sie schiffbrüchigen Flüchtlingen helfen – so wie dies auch geschah. Helfen bedeutet also: verlieren.

Bei zu viel Hilfe ist der Job weg

Ein anderes Beispiel von Entsolidarisierung, das der sonntaz zugetragen wurde: In einem Berliner Krisenbezirk hat die Jugendamtsleiterin die Mitarbeiterinnen kürzlich vor eine erpresserische Wahl gestellt. Sie sagte, wenn die Mitarbeiterinnen zu viel Hilfe für Erziehung bewilligten, müsste eine Stelle gestrichen werden.

Was bedeutet das? Familien können Erziehungshilfen bekommen, wie etwa Einzelfallhilfe oder Familienhelfer. Die solidarische Gesellschaft hat sich darauf geeinigt, dass das möglich sein muss. Nun aber müssen die Jugendamtsmitarbeiterinnen ständig befürchten, eine Kollegin existenziell zu schädigen, wenn sie ihren Klienten Hilfen bewilligen.

Eine gesellschaftliche Vereinbarung wird so auf eine sachfremde Weise ökonomisiert und individualisiert. Die Mitarbeiterinnen müssen entscheiden, mit wem sie sich solidarisieren, mit wem entsolidarisieren – mit den Klienten oder den KollegInnen. Hinzu kommt, dass sie auch die Verantwortung tragen, wenn sie Hilfen nicht bewilligt haben, und etwa ein Kind durch Vernachlässigung stirbt. So wird gesellschaftliche Verantwortung ökonomisiert und zum Problem von Einzelnen.

Alles, was uns fehlt

Die Jugendamtsleiterin hat dies übrigens nicht aus Willkür getan, sondern deshalb, weil die bezirklichen Jugendämter – aufgrund der gekürzten Zuwendungen des Landes Berlin, das den Bezirken die finanziellen Mittel zuteilt – das Geld gar nicht mehr haben. Die Entsolidarisierung wurde politisch von oben nach unten weitergereicht.

Ähnlich fatale Entsolidarisierungsspiralen entstehen übrigens auch in Job-Centern, wo Sanktionen gegen Arbeitslose positiv in die Statistik eingehen, in Braunkohletagebaugebieten, wo die Energiekonzerne Dorfgemeinschaften zerstören, indem sie Entschädigungen anbieten und dabei hoffen, dass einige Familien darauf eingehen und so das Gemeinschaftsgefüge brüchig wird, im Pflegebereich, wo Arbeiten am Menschen in Minuten gepresst werden.

(Aus dem Pflegetagebuch AOK: Windeln eines Erwachsenen: vier bis sechs Minuten. Ankleiden, inklusive Kleidung aussuchen, aus dem Schrank holen, Verschlüsse öffnen, schließen, Korsetts anlegen oder Prothesen: acht bis zehn Minuten. Zwischenmenschliches wie ein Gespräch ist nicht vorgesehen. Die Pflegekraft kann es trotzdem machen – auf eigene Kosten.)

Dan Ariely, Professor an der Duke University North Carolina im Fachbereich Verhaltensökonomie, hat untersucht, wie sich soziale Werte verändern, wenn sie ökonomischen Kriterien unterworfen werden. Seine Forschungen belegen, dass jemand, nach einem Gefallen gefragt, diesen so gut ausführt wie möglich. Dass aber jemand, dem dafür ein seiner Ansicht nach viel zu niedriges Entgelt für die Arbeit angeboten wird, sie so schlecht ausführt, wie er es für die schlechte Entlohnung für angemessen hält. Bei guter Entlohnung entspricht seine Leistungsbereitschaft etwa der, der sie auch entsprochen hat, als nur von einem Gefallen die Rede war.

Sozialer und wirtschaftlicher Austausch

„Wir leben in zwei Welten“, schreibt Ariely, „die eine ist durch sozialen, die andere durch wirtschaftlichen Austausch gekennzeichnet. Und in diesen zweierlei Arten von Beziehungen verwenden wir unterschiedliche Normen.“ Die Anwendung ökonomischer Normen auf das Geben und Nehmen, schreibt er weiter, führe zu einer Verletzung der sozialen Normen und einer Beschädigung der menschlichen Beziehungen.

Ein Gefallen für Geld ist kein Gefallen mehr, sondern eine Leistung. „Wenn dieser Fehler einmal begangen wurde, ist es schwierig, eine soziale Beziehung wieder herzustellen.“ Ist genau das mit der Solidarität passiert? Wird sie danach bewertet, was sie dem Gebenden an Nutzen bringt und nicht mehr wie sie dem Nehmenden hilft?

Wo der Text von Brecht für das Solidaritätslied auf eben jene setzt, sie heraufbeschwört, sah Rio Reiser von Ton Steine Scherben in seinem Lied „Solidarität“ bereits 1971 den Mangel: „Uns fehlt nicht die Hoffnung, uns fehlt nicht der Mut. Uns fehlt nicht die Kraft, uns fehlt nicht die Wut. … Alles, was uns fehlt, ist die Solidarität. Alles, was uns fehlt, ist die Solidarität.“

Eine Gesellschaft jedoch, in der jeder sich selbst der Nächste ist – jeder also sein Nächster –, ist keine Gesellschaft mehr.

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