Entwicklung durch Migration: Musik auf Reisen

Wenn Musiker auswandern, verändern sich die Klangkörper. Ob der Steinway-Flügel oder das syrische Exil-Orchester: alles Migrationsgeschichten.

Ein Mann steht vor sitzenden Geigern und dirigiert sie mit der Hand.

Der Dirigent Julien Salemkour und das Syrian Expat Philharmonic Orchestra in Rostock Foto: dpa

BREMEN taz | Musik ist Bewegung. Und wenn eine Bewegung räumlich verlagert wird, verändert sie sich: Es ist schon von einem ganz basalen, physikalisch-akustischen Level aus betrachtet einleuchtend, dass die Migration von Musiker*innen sich auswirkt auf die Performance und die Klangvorstellungen: Die Klänge der Heimat gewinnen erst in der Fremde an sehnsüchtiger Resonanz. Umgekehrt provoziert der fremde Sound zur Stellungnahme: Musik lässt sich schlechter ausweichen als jeder anderen kulturellen Äußerung, und eine individuell-kontemplative Rezeption war bis zur Erfindung des Kopfhörers nahezu unmöglich.

Mit- oder Gegeneinander, Kontakt oder Abschottung lassen sich auch über Sport oder Malerei und Theater, Kino-, Debattierklubs und Lesezirkel organisieren. Aber Musik zwingt dazu: Sie ist ein privilegiertes Medium der Abgrenzung von Communitys, aber eben auch der Transkulturation. Die findet beispielsweise dann statt, wenn Syrer*innen und Deutsche gemeinsam erkunden, was passiert, wenn Traditionen von Vierteltönigkeit und Spaltklang auf die Konzepte temperierter Stimmung und diatonischer Harmonielehre einander beim Musizieren begegnen.

Diese gegenwärtigen Prozesse gewinnen, wenn sie im Licht von historischer Erfahrung betrachtet werden: Das Thema identifiziert hat in dem Sinne das Bremerhavener Auswandererhaus, dessen Ausstellung „Good Music“ noch bis Ende Januar läuft. Sie erlaubt einen Einblick in die Lebensumstände zweier Musiker, die in den 1880er Jahren aus dem Taunus in die USA eingewandert sind und dort als Mitglieder einer Band teilhaben an der Entstehung der Unterhaltungsindustrie: Sie lernen Cakewalks und Ragtimes zu interpretieren, gehören zu den ersten Musikern überhaupt, die Grammophon-Walzen bespielen und treten als Begleitmusiker im Kino auf – und scheinen mit der Zeit immer deutschationaler zu werden: Die seltsame Zweischneidigkeit, wie sich Migration im und aufs Medium Musik im 19. Jahrhundert ausgewirkt hat, ist in den USA, die sich immer als Einwanderungsland verstanden hatten, seit langem Gegenstand intensiver Forschung.

Dabei zeigt sich dass sich gerade in der materiellen Seite der Musik, in den entstehenden und sich entwickelnden Klangkörpern, in neuen Instrumenten ebenso wie Orchestern, Bands und Ensembles Wanderbewegungen eingeschrieben haben, dass sie gewissermaßen Antworten formulieren auf die Herausforderungen neu erschlossener physischer und sozialer Räume. Das Pianoforte wandert als feinzirpendes Virginal aus – und kehrt mal als billigste Fabrikware für jedermann zurück, mal als brillanter Konzertflügel für die Unsterblichen.

Das höfische Orchester wird zum Klangapparat

Die preußische Militärkapelle hebt, zur Brass Band transformiert, die Moral in den Schützengräben des Bürgerkriegs und übertönt bei den Amputationen die Schreie. Das höfische Orchester wird zum auf riesige Säle und ein weniger distinguiertes Publikum abgestimmter Klangapparat.

Es geht nicht um heile Welt. Die Antwort kann auch knallharte Verdrängung bedeuten. Die Geschichte der Firma Steinway & Sonsgilt längst als Lehrbuchbeispiel strategischer Management-Forschung – dafür, wie man durch eine Kombination von handwerklicher Exzellenz, Erneuerung, und strengem bis rücksichtslosem Markenschutz eine dauerhafte Spitzenposition im Wettbewerb etabliert. Egal wie und ob man diese Geschichte moralisch bewerten mag: Ohne den Impuls der Auswanderung lässt sie sich nicht erzählen und auch nicht verstehen.

Den ganzen Schwerpunkt zu musikalischen Migrationsgeschichten lesen Sie in der gedruckten Wochenendausgabe der taz – oder hier.

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