Erdbeben Vorhersage: Eine erdbebenartige Veränderung
Bislang werden Erdbeben mit Seismometern gemessen. Ein Schweizer Forschungsteam versucht es mit einer anderen Methode: dem Glasfasernetz.
D ie Fassaden massiver Hochhäuser bröseln, Beton stürzt metertief auf die Straßen, zerschmettert die parkenden Autos, neben denen der Asphalt aufreißt und sich Fahrbahnen in Kraterlandschaften verwandeln. Küsten werden überflutet, Bäume und Strommasten fallen um, Feuer brechen aus. Menschen sterben.
Immer wieder werden ganze Regionen durch Erdbeben verwüstet. Besonders verheerend war eines Ende März dieses Jahres in Myanmar. Noch immer sind die Menschen damit beschäftigt, Trümmer zu beseitigen, Spenden zu sammeln, Opfer zu zählen. So viele Menschenleben, die unversehrt geblieben wären, könnte man diese Katastrophen vorhersehen wie das Wetter.
In der Seismologie versuchen das Forschende der Geophysik schon seit über 100 Jahren. Berichte über Erdbeben werden festgehalten, die Ströme heißen Gesteins im Inneren der Erde aufgezeichnet, und seismische Wellen mit ihren Längen und Stärken gemessen. In den Nachrichten hören wir dann von der sogenannten Richterskala, die die Stärke von Erdbeben darstellen soll. Das stärkste je gemessene Beben geschah 1960 in Chile mit einer Magnitude von 9,5. Zwei Millionen Menschen verloren ihre Heimat. Ein Beben der Stärke 9,1 im Indischen Ozean führte 2004 zur Tsunamikatastrophe, in deren Flutwellen 230.000 Menschen starben. Eine ähnlich hohe Magnitude verursachte 2011 die Katastrophe im Atomkraftwerk von Fukushima.
Ständig und überall auf der Welt bebt die Erde. Das Geoforschungszentrum der Helmholtz-Stiftung in Potsdam geht von einem sehr starken Beben mit einer Magnitude von über 8 pro Jahr aus. Weil unter dem Boden von Mitteleuropa nicht unmittelbar Kontinentalplatten aufeinander stoßen, messen Seismologen hier meist nur leichtere Erschütterungen mit einer Dauer von wenigen Sekunden. Ihre gesammelten Daten führen zu der Annahme, dass es bei uns etwa 4.600 Beben im Jahr gibt, alle sieben Jahre eines mit der Stärke 5 oder höher. Die größten Unglücke sind länger her: 1911 zerstörte ein Beben in Albstadt-Ebingen mehrere Gebäude. 1356 starben bei einem Erdbeben in Basel bis zu 2.000 Menschen.
„Vereinfacht ausgedrückt, werden Erdbeben traditionell mit Pendeln gemessen“, erklärt Andreas Fichtner, Geophysiker an der ETH Zürich. „Ein Gewicht hängt an einer Feder, die an ein Gestell montiert wird.“ Wenn die Erde bebt, bewegt sich das Gestell. Durch seine Trägheit bleibt das Gewicht jedoch in Ruhe. „Diese Relativbewegungen lassen sich aufzeichnen“, so Fichtner. Nur: Diese empfindlichen Seismometer sind teuer. Sie müssen gewartet, mit Strom versorgt werden. Und für eine breite Datenlage müssten sie überall auf der Welt stehen, um Beben zu messen. In ärmeren Ländern ist das nicht der Fall – und schon gar nicht in den Ozeanen.
Andreas Fichtner und seine KollegInnen arbeiten mit einer verblüffenden und kostengünstigen Methode, um bessere und großflächigere Messungen möglich zu machen. Ihre Lösung: das Glasfasernetz unter unseren Füßen. „Wir nutzen eine Funktion der bestehenden Glasfaserinfrastruktur“, erklärt Fichtner. Teure Infrastruktur brauche es dazu nicht, manchmal auch keine zusätzlichen Geräte. „Es ist schon alles da, lediglich die Daten müssten gespeichert und ausgewertet werden.“ Denn ein Großteil des Internets, Fernsehens und Telefonnetzes basiert auf einem die Welt umspannenden Netz von Glasfaserkabeln. Mehr als 4 Milliarden Kilometer Kabel sollen unter und zwischen den Städten liegen. Auch die Weltmeere sind von Glasfaser durchzogen.
„Zum Leidwesen der Telekommunikation ist Glasfaser in seiner Fabrikation nicht perfekt“, so der Geophysiker. Bei der Herstellung schleichen sich kleine Makel ein, winzige Defekte. Wo das Material in den Fasern rekristallisiert, streuen sich die hindurchgeschickten Laserimpulse, die eigentlich Signale übertragen sollen. Diese Rückstreuung ist messbar.
Wird ein Glasfaserkabel durch ein Erdbeben gedehnt und gebogen, verschieben sich die kleinen Unvollkommenheiten im Material – und mit ihnen die gemessene Rückstreuung. Ein Gerät namens Interrogator kann diese Veränderungen interpretieren, um exakt zu bestimmen, wo und wie stark die Vibrationen die Faser belastet haben. So können die Forschenden die Erschütterungen rekonstruieren.
Das Verfahren nennt sich ortverteilte akustische Sensorik. Das Patent stammt zwar schon aus den 1980er-Jahren. Die Dimensionen der Anwendungen werden aber erst jetzt erschlossen. Die Fachwelt in der Geophysik ist aus dem Häuschen. So viele Daten für wenig Geld, das verspricht grundlegende neue Erkenntnisse über die Welt und das, was sich unter unseren Füßen abspielt. Zunächst wurde mit der akustischen Messung kritische Infrastruktur geschützt: Die unterirdischen Glasfaserkabel in der Nähe von Kernkraftwerken, Militärplätzen und Pipelines halfen dabei, Unbefugte aufzuspüren. Mit der Jahrtausendwende testete die Öl- und Gasindustrie damit Wege, um Erschütterungen in ihren Bohrlöchern zu überwachen. Dann kamen weitere Anwendungen hinzu: Trampelnde Tierherden ließen sich damit verfolgen, selbst Veränderungen der Bodenfeuchtigkeit konnten erfasst werden.
Die Messgenauigkeit der Rückstreuung liegt im Bereich von Nanometern, also Milliardstel von Metern, das ist die Welt von Molekülen. Die optische Messung im Glasfaserkabel ist damit nicht nur billiger, sondern auch um ein Vielfaches genauer als die physische Messung der herkömmlichen Seismometer.
Kabel, die gerade aktiv Signale übertragen, kann die Seismologie leider noch nicht nutzen. Die unterschiedlichen Signale in der Glasfaser stören sich gegenseitig. Die meisten Telekommunikationsnetze enthalten aber ungenutzte Fasern, sodass diese für zukünftige Messungen verwendet werden können. Diese könnten dann die Lücken in Seismometernetzen schließen, etwa in seismisch aktiven Städten, die kein gutes Überwachungssystem haben. Oder an schwer zugänglichen Orten wie dem Meeresboden.
Das Potsdamer Geoforschungszentrum hat gerade ein neues Großprojekt begonnen: SAFAtor zielt einerseits darauf ab, die vorhandenen unterseeischen Telekommunikationskabel als Messinstrumente zu nutzen. Seebeben, vulkanische Aktivitäten und Erdrutsche an Küstenhängen würden so erkannt. Außerdem sollen neue Sensoren entwickelt und installiert werden, die sich leicht in die Unterseekabel integrieren lassen. „Die bereits vorhandenen Kabel müssen in den nächsten Jahren erneuert werden“, erklärt die Direktorin des Department Geophysik, Charlotte Krawczyk. „Wir können über die Kabel nicht nur Beben messen, sondern auch etwa Druck und Temperatur, um mehr über die Ozeane und Meeresströmungen zu erfahren.“

Die Messungen auf dem Festland laufen bereits. Unter den Straßen von Istanbul gibt es Glasfaser zur Genüge. Die Potsdamer Geoforschung rechnet in den nächsten fünf Jahren mit einem verheerenden Beben mit Magnitude größer 7 direkt in der Millionenmetropole. Erst im April hatte ein Erdbeben der Stärke 6,2 die Stadt erschüttert. Der Bosporus ist Erdbebenregion. 2023 verursachten zwei Beben von 7,7 und 7,6 an der türkisch-syrischen Grenze eine der schlimmsten Naturkatastrophen der letzten 100 Jahre.
Noch 800 Kilometer entfernt, an der Grenze zu Syrien, waren die Beben zu spüren. Zufällig zeichnete ein Team um Fichtner gerade auf einer ungenutzten Glasfaser auf, als die Erschütterungswelle ankam. Die Forschenden der ETH Zürich hatten erst wenige Tage zuvor begonnen, einige Kilometer Kabel unter dicht besiedelten Vierteln Istanbuls zu überwachen.
„Mit dieser Methode konnten wir die obersten 100 Meter des Bodens unter der Stadt untersuchen“, erklärt Andreas Fichtner. Mit herkömmlichen Beobachtungen über Satelliten ist das nicht möglich. Das Team erstellte eine Karte mit der Untergrundbeschaffenheit der Stadt. „Istanbul ist extrem heterogen“, so der Geophysiker. „Große Teile stehen auf weichem Sediment, andere auf Granit.“ Dadurch wirken sich Erdbeben unterschiedlich heftig auf die darauf stehenden Gebäude aus. Die Karte zeigte, dass bei einem Erdbeben einige Straßen zehnmal stärker erschüttert werden könnten als benachbarte.
Andreas Fichtner, Geophysiker
Das Beben von 2023 bestätigte das Modell. Die Stadtregierung von Istanbul kann diese Daten nun nutzen, um gezielter erdbebensicher zu bauen. Die vielen Daten aus dem Glasfasernetz können auch dazu beitragen, das Frühwarnsystem von Katastrophen zu optimieren. So verbessert die neue Sicht durch das Glasfasernetz auf die Unterwelt unser Verständnis der sich ständig bewegenden Erde – unter den gefährdeten Ballungsräumen von San Francisco über Istanbul bis Tokio ebenso wie unter den grollenden Vulkanen von Island.
„Wir untersuchen aber nicht nur die großen Erdbebenereignisse“, sagt Charlotte Krawczyk. Auch in Deutschland soll die Technik vermehrt eingesetzt werden. „Bei uns nutzen wir die Technologie derzeit vor allem für die Forschung zur Geothermie.“ Würde man die in der Erdkruste gespeicherte Wärme gezielter aufspüren, so würde sie als regenerativer Energieträger auch eine viel größere Rolle spielen. Am Adlershof Campus im Südosten von Berlin messen die Geophysiker deshalb passiv an einer Glasfaser entlang. „Das hätte ohne die vorhandenen Kabel unendlich viele Instrumente gebraucht“, so Krawczyk.
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