Erfolgsmodell Primus-Schulen in NRW: Inklusion statt Ideologie

Die Zukunft der fünf inklusiven Primus-Schulen ist gefährdet. Am Mittwoch ist Primus deshalb Thema im Schulausschuss des Landtags.

Mindener Primusschüler im Klassenzimmer

Lange wird gemeinsam gelernt in den Primusschulen, wie hier in Minden Foto: dpa

DÜSSELDORF taz | Sie setzen auf die Inklusion von Schüler*innen mit Handicap, unterrichten jahrgangsübergreifend – und verhindern mit einem durchgehenden Angebot von Klasse 1 bis 10 die Trennung gerade einmal zehnjähriger Kinder in potenzielle Abiturient*innen und gefühlte Bildungsverlierer*innen: Nordrhein-Westfalens Primus-Schulen gelten als Erfolgsmodell.

Trotzdem macht sich an den fünf Schulen des in Münster, Minden, Titz, Schalksmühle und Viersen gestarteten Versuchs Unruhe breit. Eltern und Leh­rer*innen fürchten, dass die schwarz-gelbe Landesregierung von CDU-Ministerpräsident Armin Laschet das ungeliebte Erbe der einstigen grünen Schulministerin Sylvia Löhrmann ab 2023 leise auslaufen lassen könnte.

Mit „Entsetzen und Unverständnis“ hätten die Eltern gehört, dass Primus „nicht gesichert“ sei, schreibt etwa Stefan Schemann, Schulpflegschaftsvorsitzender in Münster, in einem Brief an Löhrmanns Nachfolgerin, FDP-Ministerin Yvonne Gebauer. Denn die will sich trotz positiver Bewertung der von Professor*innen der Universitäten Münster und Bremen gelieferten wissenschaftlichen Begleitforschung nicht zu dem Schulversuch bekennen. Nordrhein-Westfalens Christ­demokraten und Liberale gelten traditionell als massive Unterstützer*innen des in Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien geteilten Schulsystems.

Zwar wären Berichte, nach denen das Aus der Primus-Schulen schon heute beschlossene Sache sei, „Falschmeldungen“, heißt es auf taz-Anfrage aus dem Düsseldorfer Schulministerium. Allerdings: „dem Landtag berichten“ wolle Ministerin Gebauer erst „im Sommer 2021“. Damit ist mehr als unklar, ob das Landesparlament noch in dieser Legislaturperiode über Primus entscheidet. Erst im Mai 2022 stehen in NRW Neuwahlen an.

Unsicherheit lässt Eltern zweifeln

Dabei lässt die unsichere Zukunft manche Eltern gerade aus dem bildungsaffinen Milieu bereits heute zweifeln. Schließlich sollen sie ihr Kind an einer Schule anmelden, bei der frühestens 2021, vielleicht aber auch 2022 oder gar erst 2023 entschieden wird, ob sie nach dem Schuljahr 2023/24 überhaupt weiterbesteht. „Schon der Begriff ‚Schulversuch‘ klingt doch gruselig“, sagt Mirjam Frömrich, Schulpflegschaftsvorsitzende in Minden. Die 44-Jährige ist von Primus überzeugt: „Die Lehrer*innen machen ganz tolle Arbeit“, findet sie: „Die versuchen, die Kinder auch in leistungsschwächeren Phasen einzubinden – und fragen nicht: Wie werden wir diesen Problemfall los“, sagt die Sozialarbeiterin. „Es ist total unverständlich, dass die Politik nicht ‚Halleluja‘ ruft.“

Mit „ganz viel Werbung“ versucht die Mindener Schulpflegschaft deshalb, andere Eltern von Primus zu überzeugen: „Wir präsentieren die Schule beim Drachenbootrennen, waren auch beim Weser-Fest“, sagt Frömrich. Von der Düsseldorfer Landesregierung fühlt sie sich dagegen „im Stich gelassen“. CDU und FDP könnten den Schulversuch einfach „durch Nichtstun beenden“, warnt auch der Schulleiter der Primus-Schule in Münster, Reinhard Stähling.

In Minden hofft Stählings Kollegin Antje Mismahl weiter auf eine schnelle Änderung des Schulgesetzes. Doch in einer erst Mitte Juli vorgelegten Schulgesetz-Novelle wird Primus nicht einmal explizit erwähnt. Allerdings: „Zur systematischen und kontinuierlichen Erprobung kann das Land Versuchsschulen auch dauerhaft fortführen“, heißt es darin immerhin.

Mirjam frömrich, schulpflegschaftsvorsitzende

Schon der Begriff ‚Schulversuch‘ klingt doch gruselig

„Bei politischem Willen“ könne Primus also problemlos fortgesetzt werden, sagt deshalb die schulpolitische Sprecherin der grünen Landtagsfraktion, Sigrid Beer. Doch FDP-Ministerin Gebauer setze „aus ideologischen Gründen“ offenbar ganz gezielt auf Verunsicherung. „Damit sinken die Anmeldezahlen“ – und das könne als Argument dienen, Primus als gescheitert darzustellen, fürchtet Beer. Die Regierungskoalition müsse schleunigst klarmachen, dass und wie es mit Primus weitergehe, fordert die Grüne ebenso wie SPD-Landtagsfraktionsvize Eva-Marie Voigt-Küppers. An diesem Mittwoch ist Primus deshalb Thema im Schulausschuss des Landtags.

„Völlig unverständlich“ sei, dass über die Zukunft der fünf Schulen „überhaupt diskutiert“ werden müsse, sagt die NRW-Vorsitzende der Erziehungsgewerkschaft GEW, Maike Finnern. Der Primus-Schulversuch sei nicht nur wegen der wegfallenden Auslese nach der vierten Klasse, sondern auch wegen der funktionierenden Inklusion vorbildhaft. An den weiterführenden Schulen leide die von Gebauer angekündigte „Neuausrichtung“ des gemeinsamen Lernens von Schüler*innen mit und ohne Handicap dagegen an fehlenden Konzepten, fehlendem Personal, mangelnder Fortbildung und Ausstattung.

Vor Ort machen sich deshalb auch christdemokratische Kommunalpolitiker für Primus stark. Ein „absoluter Glücksgriff“ sei die Schule, sagt etwa Jürgen Frantzen, CDU-Bürgermeister am Standort Titz, gelegen zwischen Köln und Aachen. Ohne den Versuch gäbe es dort keine weiterführende Schule mehr – für ein dreigliedriges System gibt es in dem 8.300 Einwohner*innen zählenden Ort zu wenige Kinder. Allein ist der Rheinländer Frantzen nicht – Unterstützung kommt auch aus Westfalen: „Münster“, sagt der dortige CDU-Schuldezernent und Stadtdirektor Thomas Paal, „steht hinter dem Schulversuch Primus-Schule.“

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