Martin Reichert sitzt auf seinem Balkon,den Kopf in die Arme gestüzt

Martin Reichert (1973–2023) Foto: Jonas Maron

Erinnerungen an Martin Reichert:Der mit dem leisen Lächeln

Martin hat Menschen mitgenommen: zum Rauchen, ins Ficken3000, in seinen Texten. Er war ein brillanter Autor, Mentor und verletzlicher, als wir dachten.

2.6.2023, 18:54  Uhr

Unser Kollege Martin Reichert hat sich, gerade 50 geworden, aus dem Leben genommen. Für die Redaktion ein Schock, Martin arbeitete fast 20 Jahre für die taz und war vielen aktuellen und ehemaligen Kol­le­gIn­nen freundschaftlich verbunden. Martin stammte aus Wittlich in Rheinland-Pfalz. In den 90er Jahren kam er zum Studium nach Berlin. Er schrieb bald schon für die taz, zunächst als Autor und Kolumnist für tazzwei und für das taz.mag, das damalige Magazin. Ab 2009 baute er als Redakteur und später als Vize-Ressortleiter die sonntaz mit auf, den Vorläufer der jetzigen wochentaz. Er schrieb zudem mehrere Bücher. Bis Anfang dieses Jahres arbeitete er als Redakteur im Gesellschaftsteil der wochentaz, im Februar wechselte er zum Spiegel. Eigentlich hatte er gesagt, er komme zurück zur taz.

Ein großer, schöner Mann

Das erste Mal habe ich Martin bei der taz getroffen. 2002 oder 03 war das. Da stand er auf einmal bei uns im vierten Stock, in der kleinen Bucht, in der das taz.mag zu Hause war. Ein großer, schöner, nachdenklich lustiger Mann. Für einen Moment hoffte ich, Martin würde das mit dem Schwulsein vielleicht nicht so ernst nehmen. Oder wenn, dann für mich eine Ausnahme machen. Aber da hatte mich ordentlich getäuscht.

Das taz.mag war bis zu seinem Abschuss Camp und Krawallschachtel der taz, und Themen für unsere freien Seiten konnte man überall finden – beim Rauchen im hinteren Treppenhaus, am frühen Morgen bei Möbel Olfe oder einfach nur durch erratisches Hin-und-her-Ggesimse.

Martin beherrschte die Codes der Boys-Netzwerker, ohne je selbst Arschloch zu werden. Und er konnte selbst aus dem gewöhnlichsten Gedanken, den man mit ihm teilte, ein Ideen-Abenteuer machen. Er hat die Premie­re meines Buches so galant moderiert, dass ich nachher dachte, ich hätte eventuell da wirklich etwas Schlaues geschrieben. Dabei hatte Martin nur was Schlaues reingelesen.

Sogar sein sperrmüllgeweihtes Sofa Herta verwandelte Martin in eine Zeugin der Zeitgeschichte: „… komplett eingehüllt in ‚Indira‘-Decken von Ikea und drapiert mit großen Kissen. Derart aufgetakelt sollte sie Mittelklassezugehörigkeit in meinem Haushalt simulieren, in dessen Budget ein Designersofa schlicht nicht vorgesehen ist.“ Ich schrieb ihm: „Weißt du was, das war noch nicht mal deine stärkste Kolumne heute, und trotzdem war sie super. Schreib doch mal was Schlechtes, dann fühle ich mich nicht so unter­legen.“ Er hat sich nicht daran gehalten. Judith Luig

Im Herzen ein Jugo

Schon nachmittags hatte mich Martin gefragt, ob ich noch zum Feierabendbier ins taz-Café kommen würde. Sein neuer Freund würde ihn abholen. „Der ist auch so ein Jugo wie du“, sagte er mit einem liebeserfüllten Leuchten in seinen Augen, das seinem Boštjan galt. So ein beseeltes Leuchten hatte ich zuvor noch nie bei ihm gesehen. Dabei hatte ich seine Augen vorher durchaus leuchten sehen. Denn wir hatten einen ganz bestimmten Augenkontakt.

Wir waren die „Klassenclowns aus der hintersten Reihe“ wie er uns beide immer nannte. Kaum eine Themenkonferenz, auf der wir uns nicht schelmisch angrinsten und uns gegenseitig in die Augen leuchteten, wenn wieder einer von uns eine Chance genutzt hatte, um sich über irgendwas lustig zu machen. Wenn es nichts zu lachen gab, dann machten wir uns mit der gleichen Schonungslosigkeit eben über uns selbst lustig.

Für all sein Talent, all sein sympathisches Wesen schätzte ich ihn, aber geliebt habe ich Martin dafür, dass er im Herzen Jugo war. Das war er nicht, weil er sich in einen Jugo verliebt hatte, sondern weil er wie die Jugos wusste, dass ein Gespräch ohne echten Humor keine Seele hat.

Und echter Humor, das wusste Martin wie die Jugos, ist immer auch ein bisschen abgründig. Es sagt jeder gern, dass über sich lachen können wichtig ist. Die wenigsten aber können es. Martin konnte es verdammt gut. Dass er ausgerechnet das am Ende nicht mehr konnte, bricht mir die Seele. Doris Akrap

Warum? Warum?

Zuerst war da Unglauben. Dann Fassungslosigkeit. Warum? Warum? Schmerz, oder mehr ein Vibrieren, als zerre die Luft innen im Körper an mir, spürte ich erst nach drei Tagen. Wie auch Horror und Grauen – du, Martin, „mein kleiner Bruder“, wähltest einen so harten Tod. Dann aber kam Wut auf. Von einem Moment auf den anderen. Ich bin wütend auf dich. Jemand muss es sein. Die, die dir näher standen, können es vielleicht noch nicht. Sich umzubringen ist eine Aggression gegen sich selbst und eine Aggression gegen alle, die dich liebten. Deren gibt es viele.

Wir haben dich doch auf Händen getragen, deiner genialen Sprachkunst sind wir bewundernd gefolgt, auch wenn du dich bitten ließest. Nein, betteln mussten wir. Da ist einer, der hat Musik in sich, aber er spielt sie ganz selten. Unser Fehler, dass wir dich als Diva feierten, nicht als zauberhaften, aber verletzlichen Menschen. Alles im Leben hat dich verletzt. Das Leben war deine Anmaßung. Ich hätte dich konfrontieren sollen, mit den Dämonen in dir, die ich sah.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Es gab doch Zeiten, da hast du dich mir anvertraut. Trotz aller Differenzen, trotz dieses Abstands, trotz dieses schwulen Kontinents, der mir, obwohl lesbisch, fremd ist, auf dem du dich wie ein Spitzentänzer bewegtest. Alles an dir wird mir fehlen. Du bist verschwunden. Wie die Orchidee vor dem Haus im Schwarzwald, wo ich manchmal bin. Ein „Knabenkraut“. Letztes Jahr wart ihr beide noch da. Waltraud Schwab

Welche, die leuchten

2009. Er zu mir: Ich bin das taz.mag. Ich zu ihm: Wir sind aber jetzt die sonntaz. Er zu mir: Ich zeig dir, wie Magazin richtig geht. Ich zu ihm: Rubriken sind Versprechen an den Leser, die man einhalten muss. Er zu mir: Formatnazi. Ich zu ihm: Interview doch Frau Hamm-Brücher, Ex-FDP. Er: Hildegardinchen, Grande Dame. Ich: Wir brauchen auch was zu Ikea. Er: Billy und seine Bände. Ich: Ostern. Er: Kein Jesus. Ich: Dann halt Hase. Er: Kaninchenzüchterverein. Ich: Ja, das ginge vielleicht. Er: Tiere gehen immer. Ich: Mal grundsätzlich: Welche Leute wollen wir eigentlich hier? Er: Welche, die leuchten. Ich: Ja, das. Aber wir brauchen auch Relevanz.

Er: Ich schenk dir eine Feder. Ich: Warum? Er: Für die Leichtigkeit. Er: Finde deine Autorenstimme. Ich: Mein Prof. Kolumne. Er: Gehen wir noch was essen? Ich: Curry 36 hat bestimmt schon auf! Er: Gemüse-Döner hat zu. Ich: Hipster, die ewig anstehen. Er: Das ist eine Geschichte. Ich: Ja? Er: Warum stehen wir Schlange? Ich: Tiere gehen immer. Er: Den Döner neu denken! Ich: Aber warum ist die Schlange nun so lang? Er: Einerseits sind die Jungs von Mustafa’s Gemüse-Kebap einfach zu langsam, andererseits ist man selbst einfach zu dämlich, wenn man sich hier anstellt. Oder ist es doch komplexer? Man muss das System womöglich von innen heraus reformieren.

Fotocollage: links Martin Reichert während eines Interviews, rechts Lesung aus seinem Buch "Die Kapsel"

Links: Während eines Interviews 2021, rechts: Lesung aus seinem Buch „Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik“ 2019 Foto: Patrick Galbats, Buchsalon Ehrenfeld

2012. Ich: Jetzt ist aber Schluss mit taz. Er: Wir machen das schon. Von innen heraus reformieren. Ich: Die sonntaz hat sich allein gelohnt, weil wir uns dadurch getroffen haben. 2015. Ich: Ich war ganz beschwingt von unserem Gespräch. Er: Denk in Ruhe nach. Aber dann komm, bitte. … Ich: Nur noch Stunden, dann ist es raus. Du hast mich tatsächlich zurückgeholt. Jetzt taz genießen. Allein schon, weil wir uns getroffen haben, Lieber. Georg Löwisch

Bester Ort der Welt

Wir waren eine Familie, damals im 6. Stock in der Rudi-Dutschke-Straße. „Georg ist der Papa, Anja die Mama, du bist das Kind“, sagte Martin zu mir, der Neuen in der sonntaz, „und ich bin der schwule Onkel. Zu mir kannst du immer kommen.“ Wir waren eine Familie, auch damals, auf der Reise durch Marokko mit Khalid. Martin war mein Ehemann und ich seine Frau. Homosexualität steht unter Strafe in Marokko, und wir wollten weder Martin noch Khalids Familie in Gefahr bringen. Als Ehepaar waren wir die beste Tarnung. Wir hielten Händchen, schliefen in denselben Betten in den Häusern von Khalids Verwandten in Tétouan und im Rif-Gebirge. Der Schwindel fiel uns leicht.

Nur in Tanger (fernab der Patriarchen) schliefen wir in getrennten Betten. Da habe ich ihn nachts vermisst. Welch bittere Ironie, dass diese Reise, die uns so verbunden hat, auch eine liebevolle Maßnahme war, um mich nach dem Suizid meines damaligen Partners für ein paar Wochen auf andere Gedanken zu bringen. Indem er neben mir schlief und meine Hand hielt, schenkte Martin mir Trost. In manchen Momenten war seine Umarmung der beste Ort der Welt. Jana Petersen

Wie Champagner

Acht Milliarden Menschen leben auf der Welt – mit dieser Nachricht wollten wir im November den Gesellschaftsteil aufmachen. Martin plante die Seiten, ich sollte den Text schreiben. Wir fanden ein lustiges Bild von einem Baby, das nach Sektgläsern auf einem Tisch greift. Die Zeile dazu: „Willkommen im Club“. Martin hatte sie wie so oft schnell hingeworfen. Sie war schön lapidar, die wollten wir nehmen.

Fehlte nur der Text. Ich hatte Sorge, dass er dröge werden könnte, zu abstrakt angesichts der vielen Zahlen. Es war die erste Ausgabe der neuen wochentaz, alles musste sitzen. Martin war zuversichtlich, er überzeugte mich, dass das schon klappen würde. „Und wenn nicht, gießt du eben noch ein bisschen Champagner in den Text“, sagte ich.

Eine Anspielung auf das Foto, es traf aber ziemlich genau das, was Martins Schreibe ausmachte: Seine Texte waren perlig, fein und dabei sehr sinnlich. Mit seiner Hilfe würden wir leichtfüßig von einer Zahl zur nächsten kommen. Vielleicht reichte schon diese Sicherheit, dass es am Ende auch so ging.

Martins schwebender Ton hat den Gesellschaftsteil mit geprägt. Diese Leichtigkeit, sie fehlte ihm in den letzten Wochen. Und die Zuversicht. Jetzt lebt ein besonderer Mensch weniger auf der Welt, das ist kaum zu fassen. Antje Lang-Lendorff

„Ich muss immer an dich denken“

Dass es Genialität wirklich geben muss, sah man immer, wenn in der taz am wochenende kurz vor Druckschluss eine Zeitungsseite wegbrach. Dann lief Martin zur Höchstform auf, innerhalb von anderthalb Stunden schrieb er die Seite voll, und egal, ob er dann martinartig Gesellschaftsdebatten sezierte oder er sich ein Drehbuch über eine Straußenfarm in Afrika ausdachte: der Text war immer grandios. Es war dann, als ­flossen die Zeilen aus seinem Gehirn raus, ohne dass er sie vorher gedacht hatte. Niemand konnte das wie er, und alle wussten das. Vielleicht lagen wir aber alle falsch, wenn wir dachten: Er weiß das auch. Er musste das doch ­wissen?

Ich war vermutlich 26, als Martin mich in den Berliner Schwulenclub „Ficken 3000“ führte. Dort nahm er mich an die Hand, um mit mir durch den einzigen Darkroom zu laufen, in dem ich bis heute war. Der Darkroom war komplett leer, aber das änderte nichts daran, dass ich ziemlich aufgeregt war. Sicher auch, weil ich merkte, dass da eine Verbindung war, zwischen mir nichtsahnender taz-Anfängerin und der so angenehm unaufdringlichen taz-Größe Martin Reichert, der damals auch groß im Rauchen, Trinken und Tanzen war. Nicht nur ein schreiberisches Vorbild – ein Menschenvorbild: Da wusste einer, wie er mit den Leuten umzugehen hatte. Wie er den Leuten nicht auf den Wecker ging. Und wie man das Leben zu leben hatte.

In den Jahren darauf saß er hinter mir am Schreibtisch in einer eher ramschigen Ecke der taz. Und was soll ich sagen? Es war ein Heidenspaß. Martin schickte mir mehr Lieder als wahrscheinlich je sonst ein Mann und Mails mit Betreffzeilen, die bereits verraten, wie er war („Parkhäuser in München“, „Problemgeräusche“, „Geschmorter Waschbär mit Preiselbeeren“). Und wenn mal November war, auch stimmungstechnisch, fuhr Martin seine feinen Antennen aus. Meist schlug er dann vor, doch „erst mal eine auf’m Dach zu rauchen“.

Lieber Martin, es tut mir leid, dass ich mich in den letzten drei Jahren viel zu selten bei dir gemeldet habe. Wie gern würde ich dir noch eines deiner Lieder zurückschicken. Das eine von Christiane Rösinger zum Beispiel, „Ich muss immer an dich denken“. Oder die Münchener Freiheit, klar. „Ohne dich.“ Annabelle Seubert

Der Neugierige

Manche Menschen öffnen Räume – und manche schließen sie.

Typische Sätze von Zumachern sind: Das ist Quatsch. Das macht man nicht. Wie kann man das nur so sagen? Zumacher lassen andere spüren, wie sehr sie – vermeintlich – im Recht sind oder wie toll sie das linke Latinum aufsagen können.

Die Aufmacher dagegen … Die mögen es wild. Martin war ein Aufmacher.

Martin hat Räume geöffnet und sich interessiert – sogar ganz besonders für diejenigen, die anders sind als er selbst. Differenz fand er gut, skurrile Hobbys, schräge Typen. Das war er selbst im Grunde gar nicht, aber er wollte ja auch nicht, dass alle so sind wie er.

Er hatte immer erst einmal Interesse an seinem Gegenüber – egal, ob diese Person Praktikantin in der Redaktion oder Politikerin in einem Interview war.

Martin Reichert beim tazlab, mit Kollegin Waltraud Schwab, und unterwegs mit Kollegen in eiem Bus

v.l.n.r.: beim tazlab 2012, mit Kollegin Waltraud Schwab 2017, das taz2-Ressort nach einer Mediationssitzung 2007 Foto: Wolfgang Borrs, Annabelle Seubert, Stefan Kuzmany

Während andere „nein“ sagen, formulierte Martin ein zugängliches „aha“. Er strahlte Offenheit aus, trug stets ein feines Lächeln auf den Lippen, das auch in beherzte Schadenfreude umschlagen konnte, wenn die Zumacher, die Nein-Sager, mal stolperten.

Martin blieb immer neugierig, wollte Phänomene entdecken. Diese Neugier sollten wir uns in der taz behalten, ich möchte sie mir erhalten. Katrin Gottschalk

Martin, mein hamdam

Das erste Mal traf ich Martin 2011 im Ficken3000, jener Bar mit dem berühmten Darkroom, in der Kreuzköllner Queers zum Cruisen, Abhängen, zum Intellektualisieren und Sexy-Sein waren. Das erste Bild, an das ich mich erinnern kann, ist das von Martin, der auf einem Hocker an seinem üblichen Platz saß; Martin trank ein großes Bier; das entwaffnende Lächeln. Groß und breit, eine riesenhafte Erscheinung. Wir beide verbanden uns sofort.

In jenen frühen Jahren waren wir auch Nachbarn in Berlin. Wenn wir uns nicht auf der Straße begegneten, dann eben im Netz der Dating-Apps. Oder am Dienstagabend im Ficken3000. Jedes Mal wurde zur Begrüßung ein Küsschen ausgetauscht, immer auf die Lippen. Auch wenn aus unserer Affäre nie etwas wurde, der Kuss blieb. Er war die dünne, aber unverkennbare körperliche Spur einer Romanze, die wir nicht hatten, an der wir aber beide auf ihre Weise festhielten.

Martin sprach stets leise und hörte zu wie ein Weiser. Von Problemen mit Liebhabern bis zu Lebensentscheidungen, von islamischen Lebenswelten bis zur schwulen Geschichte Berlins gab es immer etwas zu besprechen, voneinander zu lernen, sogar auch zu streiten.

In einer Zeit, in der sich das Weggehen seltsam bequem anfühlte und das Weitergehen immer schwieriger wurde, war es Martin, der mir behutsam beibrachte, dass auch straighte Vergangenheiten eine Trauer in der queeren Gegenwart rechtfertigten; dass wir nicht einfach so in eine queere Zukunft hineinschlittern.

In all diesen Jahren war er mehr als ein Freund, mehr als ein Liebhaber. Er war mein Weiser, mein Vertrauter, mein früher queerer companion. Martin war ein hamdam, dieser persisch-urduische Begriff für einen Gefährten, der buchstäblich deinen Atem teilt, dessen Herz mit deinem schlägt.

Deshalb ist es jetzt so unglaublich einsam für ein Herz, das ganz allein weiterschlägt. Kein Wunder, dass es jetzt so schwer zu atmen ist. Omar Kasmani

Kongo oder Schamhaar

Eine Redaktionsversammlung, es war ein Montag, etwa in den frühen nuller Jahren, einberufen vom Redaktions­rat, Martin Reichert war in dieses streitschlichtende Gremium Monate zuvor mit deutlichem Votum hineingewählt worden. Die abendliche Zusammenkunft fand durchaus zum Missfallen der damaligen Chefredaktion statt, der Konflikt ging um einen bestimmten Text, der gecancelt worden war – und überhaupt um die Spaltung der Redaktion. Hier die Politischen, wie es immer hieß, dort die Gedönsleute, die von Politik sowieso keine Ahnung hatten, wie die Ersteren glaubten.

Martin führte die Versammlung auch für seine Freundinnen* überraschend hart durch den Abend, Emotio­nales würgte er fast ab, es ging um den kühl zu haltenden Disput – ihm ging es letztlich um Akzeptanz beider Flügel, die angeblich Politischeren sollten anerkennen, dass das Gedöns zu einer lebendigen Zeitung gehört, die Leute, die auch, wie Martin selbst, gesellschaftliche Trends nicht nur aus Pressemitteilungen von Verbänden und Parteien herauslesen, nicht allein die Wahlen-Putsch-Aufstand-Opposition-Wahrnehmungen gelten lassen wollten, anderes in der Zeitung gedruckt sehen wollten, sollten die Politischen respektieren.

Am Ende sagte, durchaus in liebevoll gesättigtem Timbre, Martin, der Versöhner aus eigener Leidenschaft, es sei doch ganz einfach: „Die Zeitung braucht den Kongo, aber auch das Schamhaar.“ Lacher aus dem Publikum, gut die Hälfte war erheitert ob dieses Versuchs der Bündelung des Gegensatzes, der gegenseitigen Respekt verlange – aber Wut und Türenknallen bei anderen. Es war auch ein Scheitern des Gesprächs. Hatte es damit zu tun, dass man in Martin, den schreibenden Aktivisten für eine verständigere Welt, „nur“, besser: nur den Schwulen sehen wollte, politisch nicht ernst zu nehmen?

Das konnte andererseits nicht stimmen, denn zu den Kämpfern wider die journalistischen Arbeiten im Gesellschaftsbereich, wider die ultradetaillierten Wahrnehmungen von anderen Welten zählten ja auch männliche Redaktionshomos, wenn auch lieber „in the closet“, im Diskreten bleibende Kollegen. So oder so: Martins Versöhnungsformel für diesen Abend – war auf Grund gelaufen, und er war enttäuscht: Warum wurde er nicht in seiner Friedlichkeit verstanden? Jan Feddersen

Ode an die Traurigkeit

Wenn im lauen Sommerabend

sich der Mensch zum Mensch gesellt

Musik erklingt und Feste feiern

so dass sich Herz an Herze lehnt

da sucht ein anderer stille Einsamkeit

und schreibt noch Oden an die Traurigkeit

Ruhe in Frieden, mein lieber Martin. Thekla Bethe

Er nahm mich mit zum Rauchen

Martin war da, als es losging. Ich war 23 Jahre alt, hatte mein Regionalzeitungsvolontariat abgebrochen und saß plötzlich in dieser taz, in einem mit Tischen zugestellten Raum mit Dachschrägen und deckenhohen Bücherwänden. Der Redaktion des neuen taz-Wochenendteils sonntaz. Ein Raum voller Menschen, die alle schon Großes geleistet hatten. Und ich.

Zum Glück gab es Martin, der mich mitnahm zum Rauchen. Wenn keine Zeit für die 45 Schritte zur Dachterrasse war, dann war immer Zeit für das schma­le Treppenhaus hinter der Brandschutztür, fast neben Martins Schreibtisch. Er erklärte mir die taz und er brachte mir bei, dass Regeln dazu da sind, gebrochen zu werden und dass guter Magazin-Journalismus davon lebt, unerwartete Fragen zu stellen. Dürfen Linke putzen lassen? Was können Heteros von Homos beim Sex lernen? Martins Fach in meinem Lehrplan war Rock ’n’ Roll und er warb stetig für eine Stundenzahlerhöhung.

Als ich nach einigen Wochen im Urlaub auf dem elterlichen Bauernhof war, rief er an. Zwei Ideen habe er für mich: Erstens müsste ich unbedingt einen Ich-Text für die Genussseite darüber schreiben, wie ich als Feldköchin unsere Traktoristen in der Ernte verköstige. Zweitens möchte er mit mir einen Escort über seine Erlebnisse in der Sexarbeit interviewen. Also schrieb ich über Sahnetorte mit Rapsstroh, und wir redeten bei Gin Tonic über Arschficken und versackten anschließend in einer Stricherbar. Martin traute mir alles zu und war bereit, für mich zu kämpfen.

Fotoaktion für die "Homotaz" - Martin Reichert posiert mit einem Kuschelbären

Im Foto­automaten beim Shooting für die „homotaz“ 2013 Foto: taz

Als wir nach einigen Monaten darüber witzelten, dass ich immer noch kein Fachgebiet gefunden habe, ernannte er mich kurzerhand zur Fachredakteurin für Sexualität und Landwirtschaft. Und das war ich dann.

Neun Jahre später, nach der Geburt meines dritten Kindes, verlängerte ich die Elternzeit, um mal wieder ein paar große Texte zu schreiben. Ich schaffte zwei. Einen zu männlicher Verhütung und einen über die Geschichte der modernen Milchkuh. Es war nicht so geplant, aber Sexualität und Landwirtschaft war geblieben. Auch geblieben ist der Satz von ihm. Er hat ihn mir zum 24. Geburtstag geschrieben in sein Buch, es heißt: „Wenn ich mal groß bin. Das Lebensabschnittsbuch der Generation Umhängetasche“. Unter dem Titel steht in meiner Ausgabe in seinen geschwungenen Buchstaben: „Zwischen den Zeilen des Lehrplans wird’s erst richtig interessant.“ So bringe ich es heute meinen Jour­na­lis­ten­schü­le­r*in­nen bei. Dank Martin. Luise Strothmann

Nie wieder

Nennen wir es nie wieder Lethargie, wenn jemand sich ab und zu ein wenig hängen lässt, und vergessen das, sobald er wieder einen seiner brillanten Texte geschrieben hat. Zum Beispiel den über die Netflix-Aufräumcoachin Marie Kondo und warum plötzlich jeder zu Hause ausmisten wollte wie sie. Oder das tolle Gespräch mit Erika Pluhar. Fragen wir in diesen Phasen des Schwer-in-die-Gänge-Kommens besser nach: Wie geht es dir? Und hören dann ganz genau hin, sehen genau hin. Begleiten den Kollegen, der manchmal seufzt und manchmal etwas träge und erschöpft wirkt, so gut es geht.

Glauben wir nie wieder, jemand habe sein Glück gefunden, nur weil die äußeren Umstände gut aussehen: Während der Pandemie nicht auf Berlin festgelegt sein müssen, sondern partiell an der slowenischen Adria leben können. Ist doch super! Mit dem tollen Mann an seiner Seite, wie schön! Und wenn er erzählt, dass er morgens im Meer badet, dann einen Cappuccino an der Strandbar nimmt und danach an die Arbeit geht, dann kann es sein, dass er sein Glück gefunden hat. Aber wissen wir’s? Hören wir hin, sehen wir hin. Fragen wir nach. Schieben wir unsere Skepsis nicht beiseite, wenn sie aufkommt.

Sagen wir nie wieder: „Wir könnten doch mal“ – „zu diesem Griechen bei euch um die Ecke gehen“, „zusammen Mittag essen“. Beharren wir darauf, machen wir diese unverbindlichen Verabredungen fix – oder fragen nach, wenn schon wieder was dazwischengekommen ist.

Achten wir aufeinander. Seien wir aufmerksam. Sehen wir den anderen.

Leb wohl, lieber Martin! Felix Zimmermann

Nie Wut und Hass

Man sucht ja dann doch die Leute, die sind, wie man selbst ist. Martin Reichert war anders als ich, aber angenehm anders, man musste sich nicht anstrengen. Er machte es einem leicht, indem er das Gleiche oder Ähnliche hervorhob, seine brillante und pointensichere Alltags- und Menschenanalyse etwa, und das andere nur sehr dosiert und am späteren Abend einsetzte, nicht nur den „Schwulenkram“, wie er das nannte. „Das liest wieder keiner“, sagte er über Schwulenkram-Journalismus. Mit „keiner“ meinte er mich.

Martin schrieb, wie er schrieb. Er war zwar professionell und privat ständig damit beschäftigt, zu verstehen, wohin der Wind in einer Redaktion gerade wehte, passte sich aber in seinem Schrei­ben nie der handelsüblichen Konformismusdynamik einer Gruppe an, auch nicht einer Kleingruppe. Don’t get me wrong: Er war ein engagierter Teamplayer, der sich – mit oder ohne entsprechende Funktion – um die Leute um ihn herum sorgte und kümmerte; aber er blieb im Schreiben eigensinnig. Und verkörperte damit im besten Sinne, wofür die taz gegründet wurde.

Martin konnte – und das kenne ich sonst nicht – superbitchy sein auf eine vollhumanistische Art. Als brauche er zwar Spott und Humorkritik zum Atmen, aber niemals Wut und Hass. „Sei nicht immer so versöhnlich“, riet ihm ein enger Freund. Aber genau das, das allzeit Versöhnliche, auch gegen die großen Zumutungen seines Lebens: Das schien sein Überlebensmodus zu sein.

Ich dachte, das sei eine große Gabe. Heute bin ich mir da nicht mehr sicher. Peter Unfried

Mein schwuler Ziehvater

Es war 2009, ich war Mitte 20, kam nach Berlin, als Volontär zur taz und war aufgeregt. Nicht so sehr wegen des neuen Jobs, sondern weil sich mir eine neue Welt eröffnete. Nach Jahren voller Geheimnisse und voller Schmerz hatte ich endlich mein Coming-out als schwuler Mann. Und da war Martin, mein Kollege in der sonntaz. Er zeigte mir Berlin. Das Ficken3000, das Olfe. Vor allem aber konnte er zuhören, über Liebeskummer hinwegtrösten, ermutigen, dass es nicht den einen schwulen Weg gibt in Berlin. Er war mein schwuler Ziehpapa. Mein Vorbild bei so vielem. Vor einigen Jahren wurde ich sein Chef, unsere Freundschaft litt darunter. Das macht die Trauer und Verzweiflung nur größer. Ich verdanke ihm so viel. Paul Wrusch

Hvala, Darling

Wenn im Betreff „Liebe …“ steht. Wenn die Büroluft leichter ist. Wenn die Gelassenheit für alle reicht. Wenn es guten Rat zum Kuchen gibt. Wenn doch eigentlich nichts passieren kann. Wenn alles das, dann wegen Martin.

Martin, der schon im Wasser war. Martin, der vor einer großen Landkarte sitzt und die zerstreuteste Welt auf den Punkt bringt. Martin, der so ehrlich freundlich ist – diese grausam unterschätzte Qualität. Martin, der die wärmsten Herzensorte schreibt und manchmal: hvala, darling. Der Einzige, von dem ich mich gern Darling nennen ließ.

Eine Schreibende sucht dauernd die richtigen Worte, aber findet jetzt alles falsch. Tippt, löscht, verheddert sich in komischen Fragezeichen: Weißt du, dass ich kornblumenblaue Socken habe, weil ich deine so schön fand? Und weißt du, dass ich mir plötzlich nicht mehr sicher bin, ob du wirklich solche hattest? Unmöglich sich noch sicher zu sein oder die richtigen Worte zu schreiben. Also lese ich weiter deine: häng nicht so viel auf instagram rum, darling. und: it was nice to have you around! ja, wir sehen uns auf dem roten teppich:-)

Martin, darling. Ich wünsche dir das Meer. Lin Hierse

Die Muffigkeit war ihm zuwider

Als ich 2010 zur taz kam und Martin zum ersten Mal sah, war es Liebe auf den ersten Blick. Wir rauchten unzählige Zigaretten im Treppenhaus, scherzten, lachten und suchten im scheinbar Belanglosen den neuen Text. Martin war immer mindestens einen Tick schneller als ich. Mit einem verschmitzten Lächeln sagte er einmal zu mir: „Alem, schreib uns was über den neuen Burger-Hype.“ Obwohl er genau wusste, dass ich Vegetarier bin. Ich schimpfte über die Bierbikes in Berlin, und er sagte: „Hm, das hast du jetzt davon, mein Lieber. Du fährst mit und schreibst uns eine Reportage darüber.“

Die Muffigkeit im Denken war ihm zuwider. Ideologien waren ihm fremd. Am glücklichsten war er mit seinem Mann Boštjan in Koper. Er liebte das Meer und das Schwimmen. Als er mir vorschlug, mit meiner Familie den Sommer dort in seiner Wohnung zu verbringen, sagte ich zu ihm: „Martin, ich bin Kroate, unsere Küste ist 1.700 km lang. Die Slowenen haben 50 km. Wenn ich Urlaub bei euch mache, kann ich mich nie mehr in meiner Heimat blicken lassen.“ Er sah mich mit seinen schönen strahlenden blauen Augen an. „Tja, blöd gelaufen. Ich freue mich schon wahnsinnig auf euch.“ Alem Grabovac

Unvorstellbar

Nie wieder tanzen mit dir, Martin, das ist unvorstellbar. Frauke Böger

Der neue Mann

Vor Jahren, nachdem Martin sehr krank gewesen war, haben wir uns abends in Kreuzberg zum Essen getroffen. Er sah abgemagert aus und, ja, irgendwie erleuchtet. Denn er war, das verstand ich erst jetzt, buchstäblich dem Tod entronnen.

Martin erzählte mir an diesem Abend von einem neuen Mann in seinem Leben. Der sei, sagte er, in der ganzen Zeit nicht von seiner Seite gewichen. Auch als es ihm schon wieder besser gegangen sei, habe dieser Mann ihm jeden Tag geschnittenes Obst gebracht. Geschnittenes Obst! Martin schaute mich aus seinen wunderschönen blauen Augen an, als wollte er sagen: Womit habe ich denn das verdient.

Dieser Mann, Boštjan, hat Martin all die nächsten Jahre gefüttert. Mit Bestätigung und Interesse, Schönheit und Abenteuern, Innigkeit und Witz. Bei dir, Boštjan, sind jetzt meine Gedanken. Du hast ihm gegeben, was er immer gesucht und vermisst hatte: selbstlose Liebe. Sie bleibt. Anja Maier

Yeah yeah. Ohje he

Martin, weißt du noch, vor 15 Jahren? Ich war Praktikantin und du hast meinen ersten großen Text redigiert. Eigentlich warst du schon auf dem Sprung in den Feierabend, aber du hast dir Zeit genommen, mich neben dich gewunken, dir eine Zigarette angezündet – und dann durfte ich zuschauen, wie du zauberst. Du hast nur hier einen Halbsatz hinzugefügt, da ein Wort verändert. Aber diese Kleinigkeiten waren es, die später beim Lesen in Erinnerung blieben. Ich war voller Ehrfurcht.

Ich habe dir die Geschichte seither immer mal wieder erzählt, zuletzt vor ein paar Monaten. Wie wichtig dieser Moment für mich war, wie viel ich dabei gelernt habe, dass du ab da mein Mentor warst. Dann hast du etwas verlegen gelächelt. Ich wünsche mir, dass du mir trotzdem geglaubt hast.

Martin, weißt du noch, wie wir Tränen gelacht haben über alberne Videos? Die Geräusche, die du bei der Arbeit gemacht hast, gehörten zum Klangteppich der taz wie das Klappern der Tastaturen. Yeah yeah. Ohje he. Oj. Hm. Hm hm hm. Hach. Hach ja.

Als ich dein Buch über Aids mit in den Sommerurlaub nehmen wollte, hast du mir eine Widmung geschrieben: „Als Urlaubslektüre? Warum eigentlich nicht; ein Blick zurück, auch in Trauer – und Hoffnung gibt es auch.“ Die Trauer jetzt ist riesig. Ich hoffe, dass es dir gut geht, da, wo du nun bist. Franziska Seyboldt

***

Unter taz.de/bestofmartin finden Sie eine Zusammenstellung der besten Texte von Martin aus den vergangenen 20 Jahren.

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