Erinnerungen an die strikten Siebziger: Ein Katalog der Missgeschicke

Viv Albertine ist stolz auf ihre Fehler. Die britische Punk-Künstlerin liest in Berlin aus „A Typical Girl“, ihren Memoiren über die Zeit der Befreiung.

Viv Albertine mit rotem Rock und hellbrauner Lederjacke

Sie sei keine Legende, sagt Viv Albertine über sich Foto: Carolina Ambiga / Suhrkamp

Viv Albertine ist angetreten, um eine Legende zu zerstören. Ihre eigene. Immerhin war sie Gitarristin der wegweisenden Londoner Frauenpunkband The Slits, und so wird ihr dieser Status gern verliehen. Sie mag ihn nicht. Im Punk gebe es keine Legenden, schon gar keine, die noch leben.

Und so sitzt sie jetzt ganz lebendig, ja jugendlich, auf der Lesebühne des Kulturkaufhauses Dussmann in Berlin und stellt ihre Autobiografie „ A Typical Girl“ (Suhrkamp) vor, ein Buch voller Episoden des Scheiterns, ein Katalog der Missgeschicke, voller peinlicher Situationen, wie sie betont.

Einige davon gibt sie zum Entzücken der vielen Zuhörer zum Besten, und zwar sehr intime: Es wird rumgemacht in einer Teenagerclique, die zum Who’s who des Punk werden sollte. Albertines Leser werden die Namen Johnny Rotten und Sid Vicious nie mehr hören können, ohne an Schamhaare zu denken. Es geht Viv aber auch um ein Sittenbild jener Zeit.

Gerade jetzt, wo doch die Ästhetik der siebziger Jahre so hip sei, wolle sie uns daran erinnern, dass das England von damals moralisch noch in den 1940ern steckte. Die Straßen von Nordlondon trauten sich die Slits nur zu viert entlangzugehen, weil sie tätliche Angriffe abwehren mussten, so, wie sie aussahen.

Es ist eine der Errungenschaften von Punk, dass sich das Frauenbild – nicht nur in der Musik – radikal verändert hat, aber Rollenklischees zu zertrümmern war nicht einfach: „Die Slits waren keine Musikerinnen, sondern Kriegerinnen“, sagt Viv, „lautstark gegen Doppelmoral.“

Jeder hat das Recht

Die Botschaft, die sie ihrem heutigen Publikum vermittelt, ist, dass Erfolg nicht so wichtig ist, es geht nicht darum, jedes Jahr ein Album einzuspielen. Für Albertine ist Musik radikaler, ein lebensveränderndes Vehikel. Was zählt, ist die Leidenschaft. Man muss weder gut aussehen noch gut spielen, um auf der Bühne zu stehen. Jeder hat das Recht, gehört zu werden. Das ist die Essenz von Punk. Echt zu sein, stolz zu sein auf seine Unzulänglichkeiten.

Viv Albertine ist stolz auf ihre Fehler. „Oh mein Gott, was habe ich gelernt“, lacht sie. Sie stellt das Scheitern über den Erfolg, weil daraus neue Anfänge entstehen, weil Scheitern lebendig ist. Eine gute Botschaft für unsere superoptimierte Zeit.

Im November wird die Sex-Pistols-Single „Anarchy in the UK“ 40 Jahre alt, bereits jetzt sind die Scheinwerfer auf die Anfänge von Punk gerichtet. Albertines Memoiren sind im Original allerdings schon 2014 erschienen. Bei dieser Lesung geht es um die deutsche Ausgabe, die sie hinterher in Berlin bestimmt hundert Mal signieren musste.

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