Erstes Virtual-Reality-Kino in Deutschland: Schnitte mit dem Hula-Hoop-Reifen

Ein Kino in Berlin hat sich auf 360-Grad-Filme spezialisiert. Das junge Medium testet seine dramaturgischen Grenzen noch aus.

Ein Mann hält Spielequipment und hat eine große Brille und Kopfhörer auf

Jeder schaut seinen eigenen Film: Besucher des Virtual-Reality-Kinos in Amsterdam Foto: imago/Paulo Amorim

Zum ersten Mal hat man den Eindruck, sich in einer virtuellen Wirklichkeit zu befinden, noch bevor man das Virtual-­Reality-Kino in Berlin-Mitte betreten hat. Die ehemalige Geldfabrik, in der seit den 1930er Jahren Münzen geprägt wurden, entpuppt sich auch ganz ohne Virtual-Reality-Brille als die Art von historischem Gebäudeblock, in dem in den 1990er Jahren der Mythos von Berlin als Stadt des Nachtlebens, Untergrunds und billiger Freiräume für Kreativität seinen Ausgangspunkt nahm.

Auf dem Hof stehen ein paar improvisierte Bretterbuden, die offenbar von einer Party übrig geblieben sind. Hinter ihnen künden staubblinde Fenster in historischen Fassaden von offenbar leer stehenden Gewerbeflächen, auf denen man seiner Kreativität freien Lauf lassen könnte.

Die 1990er Jahre waren es auch, in denen die Idee der virtuellen Realität (VR) zum ersten Mal in großem Stil propagiert wurde. Medienkünstler und Computerspielfirmen entwickelten erste, mofahelmgroße Videobrillen, mit denen man in imaginäre, dreidimensionale Räume eintauchen sollte. Die notwendigen Sichtgeräte waren klobig und schwer, die Computer noch zu langsam, um glaubwürdige Raumdarstellungen möglich zu machen. Und wer die Dinger zu lange auf dem Kopf hatte, dem wurde schwummerig. Die Technologie verschwand in der Hightech-Mottenkiste, und stattdessen trat das Internet seinen Siegeszug an.

Doch seit das Start-up-Unternehmen Oculus VR für seine Datenbrille erst beim Crowdfunding Rekordsummen einsammelte und dann für zwei Milliarden Dollar von Facebook gekauft wurde, glauben viele an eine zweite Chance für die Technologie. Die Oculus-Rift-Brille und die zahlreichen ähnlichen Produkte, an denen unter anderem Unternehmen wie Sony, Valve und HTC arbeiten, sind zwar in erster Linie für Computerspiele gedacht. Aber eine Reihe von Regisseuren hat begonnen, Filme für diese Plattformen zu machen, die die Eigenschaft des Medium ausnutzen, Zuschauer mit einem 360-Grad-Panorama zu umgeben. Seit Anfang März zeigt das VR-Kino in Berlin eine Auswahl davon.

Für 12 Euro gibt es im ersten VR-Kino Deutschlands – nach Amsterdam dem zweiten in Europa – ein halbstündiges Programm. Mehr will man dem ungeübten Betrachter am Anfang nicht zumuten. Junge Helfer setzen einen in einen kugelförmigen Drehstuhl, erklären die Technik und platzieren eine Gear-VR-Datenbrille, in der ein Samsung-Galaxy-S6-Smartphone als Monitor steckt, sowie einen Kopfhörer auf den Kopf des Besuchers.

Vorbei am klingelnden Hummertelefon

Dann startet mit einem sanften Druck auf das Touchpad am Rand der Brille der erste Film. Der zeigt eine komplett digital animierte Wüstenlandschaft, die von den Gemälden Salvador Dalís inspiriert ist. In einer Nonstopkamerafahrt bewegen wir uns auf die zwei an­thro­po­mor­phen Türme aus Dalís Gemälde „Archäologische Erinnerung an Millets Angelus“ zu, fahren durch ein kleines Tor am Fuß des einen Turms, vorbei an einem klingelnden Hummertelefon, während am Horizont Elefanten mit den endlos langen Beinen auftauchen. Man fliegt auf die Karawane zu, dreht dann elegant ab und zischt von unten in den zweiten Turm, an dessen Fuß ein Technicolor-bunter, durchsichtiger Hippie meditierend in der Luft schwebt, während wir im Inneren des Turms hochsausen und der Film schließlich mit dem Blick auf einen dramatischen Sternenhimmel über den Türmen endet.

Das klingt nach Kitsch und ist es auch. Aber der Film zeigt auch gleich einige der Stärken und Schwächen von VR-Filmen paradigmatisch auf. Da stellt sich zunächst einmal die Frage, ob das überhaupt noch Film ist, wenn man als Betrachter absolute Wahlfreiheit hat, die eigene Blickrichtung zu bestimmen und zum Beispiel immer nur dahin zu gucken, wo nichts passiert. Die Kraft des tra­di­tio­nel­len Kinos besteht ja auch gerade darin, dass der Regisseur den Zuschauer quasi an den Ohren nimmt und ihn zwingt, in bestimmten Abständen auf bestimmte Dinge zu sehen.

Bei den VR-Filmen kann man die Aufmerksamkeit des Betrachters nur mithilfe der Kamerabewegung lenken. So blickt man automatisch auf das, worauf die Kamera zusteuert. Oder man dreht sich, zumindest am Anfang, wild auf seinem Stuhl herum und bewegt den Kopf nach oben und nach unten, um das ganze Rundumpanorama zu erfassen. Davon wird einem aber dann schnell ein bisschen blümerant.

Es stellt sich die Frage, ob das überhaupt noch Film ist, wenn man als Betrachter absolute Wahlfreiheit hat, die eigene Blickrichtung zu bestimmen und zum Beispiel immer nur dahin zu gucken, wo nichts passiert

Schnell wird auch klar, dass – wie auch beim 3D-Kino – der Raumton wichtige Orientierungshilfen beim Sehen liefert: Geräusche aus dem Off können den Nutzer auch dazu bringen, in eine bestimmte Richtung zu schauen.

Der nächste Film ist ein Musikvideo, das aus einer unveränderten Position und ohne stereoskopische Raumtiefe eine Band in selbst gebastelten Kostümen beim Musizieren zeigt. Hier wird das Problem der Montage in Angriff genommen. Die übrigen Filme bestehen vor allem aus Kamerafahrten, denn Schnitte eines Umfelds würden auf den Betrachter wohl desorientierend wirken. Bei dem Musikclip wird zwischen verschiedenen Sequenzen gewechselt, indem immer wieder ein Hula-Hoop-Reifen oder ein Spiegel an dem Betrachter vorbeigezogen werden, die die eine Szene weg- und die andere herschieben.

Wo und wer ist der Betrachter?

Gerade der Spiegel macht aber ein weiteres Problem des VR-Kinos deutlich: Wo ist der Betrachter in dem Film, als dessen Mittelpunkt er sich ja fühlen muss? Der Spiegel zeigt jedenfalls immer wieder an der Stelle, an der sich der Betrachter befinden müsste, einen Turm mit mehreren Objektiven: die Kamera, die die 360-Grad-Szene aufgenommen hat als ein offenbar bewusst eingesetzter Verfremdungseffekt, der den etwaigen Eindruck der unmittelbaren Wahrnehmung zerstört.

Es folgt ein Flug durch eine digital animierte Höhlenlandschaft voller geometrischer Wände, bei denen ein weiteres Problem deutlich wird: Die Auflösung des als Monitor verwendeten Smartphones ist zu gering, und die detaillierte Zeichnung der Wandmuster zerlegt sich beim Näherkommen in Pixelklumpen. Da erlauben die Prototypen von Oculus Rift wesentlich detailgenauere Bilder.

Witzig ist ein japanischer Film, der Emojis in einem Smartphone bei der Arbeit zeigt. In einer Art Amphitheater warten sie darauf, dass der Nutzer des Handys eines von ihnen auswählt, dann fliegen sie durch einen bunten Cyberspace voller Lichtblitze und dynamischer Linienlabyrinthe zum Empfänger. Wieder ist alles in einer einzigen, virtuellen Kamerafahrt gedreht.

Ein Blick durch die „Vierte Wand“

Der letzte Film ist noch mal ein Realfilm, er stammt vom Niederländer Jip Samoud, der auch der Betreiber des Berliner VR-Kinos ist, nachdem er zuvor bereits ein solches in Amsterdam eröffnet hat. Zwei holländische Schauspieler werden von einem Reality-TV-Team in ihrem schicken Loft überrascht, und die Reporter haben ihnen einen syrischen Flüchtling als Untermieter mitgebracht. Die liberalen Gutmenschen lassen sich schnell eine Reihe von Ausreden einfallen, warum sie den Flüchtling leider nicht aufnehmen können.

Am Schluss fragen die Schauspieler durch die „vierte Wand“ direkt den Zuschauer, was sie denn nun tun sollen – ein dramaturgischer Kunstgriff, der beim VR-Film natürlich besonders gut funktioniert, weil es hier die „vierte Wand“, die beim traditionellen Kino den Zuschauer vom Geschehen auf der Leinwand oder dem Monitor trennt, eigentlich nicht gibt.

Hat man die Datenbrille ­abgesetzt, empfindet man erst mal einen leichten Schwindel und ist beim Aufstehen etwas wackelig auf den Beinen. Beim Verlassen des Gebäudes wirkt der Innenhof der Alten Münze dann noch etwas mehr als beim Betreten wie eine Virtual-Reality-Simulation des Berlins der 1990er Jahre.

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