Essay „People Love Dead Jews“: Die Lebenden und die Toten

Die offizielle Trauer um jüdische Opfer dient allein dem Seelenfrieden der Trauernden, schreibt die US-Autorin Dara Horn. Ihr Essay-Band ist erhellend.

Interieur mit menschenähnlichen Figuren

Juden als Geister der Vergangenheit: Installation im jüdischen Museum der chinesischen Stadt Harbin Foto: Walter Bibikow/imago

Manchmal ist der eigene Körper das Geisterhaus eines anderen. Andere Menschen sehen dich an und können nur die Toten sehen.“ Mit diesen Sätzen beginnt Dara Horns preisgekrönter Essay-Band ­„People Love Dead Jews“, der bislang leider nur in englischer Sprache vorliegt.

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Nach fünf zum Teil sehr erfolgreichen Romanen ist der Band nun ihr erstes, für ein breiteres Publikum geschriebenes Sachbuch. Er umfasst mehrere Essays, die in unterschiedlichen Kontexten bissig die nichtjüdische Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden kommentieren.

Obwohl die Perspektive Horns unverkennbar eine amerikanisch-jüdische ist, ist ihr Blick nicht nur auf Nordamerika gerichtet, sondern macht beispielsweise auch das Anne-Frank-Haus in Amsterdam, die virtuelle Rekonstruktion zerstörter Synagogen im Nahen Osten oder das Jüdische Museum im chinesischen Harbin zum Gegenstand ihrer Analyse.

In einer Zeit, da in Deutschland vermehrt geschichtspolitische Debatten über angeblich nicht mehr „zeitgemäße“ Formen des Erinnerns aufbrechen, sind Horns Essays ein wichtiges Korrektiv. Sie zeigen, dass Jüdinnen und Juden in der globalen Gedenkkultur nur mehr als Gespenster vorkommen. „Die Leute lieben tote Juden – lebende nicht so sehr.“

Fixierung auf Jüdinnen und Juden als Opfer der Geschichte

Die Autorin, die neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit auch jüdische Literatur in Harvard und an der Yeshiva-University in New York gelehrt hat, registriert rund um den Globus eine fast obsessive Fixierung auf Jüdinnen und Juden als Opfer der Geschichte.

Die Einsicht, dass diese die Vergangenheit aktiv mitgeprägt haben, werde dabei häufig ebenso als störend empfunden wie das lebendige Judentum der Gegenwart, weil es das sinnstiftende Narrativ einer abgeschlossenen Geschichte mit Happy End infrage stelle. Jüdisches Leben, nicht zuletzt die Existenz des Staates Israel, sei eine sichtbare Erinnerung an die Zerstörungen, auf denen die Nachkriegsordnung aufruht.

In diesem erweiterten Sinne sei der Holocaust eben nicht abgeschlossen. Seine Folgen wirkten fort, bis in unsere Gegenwart hinein. Doch das Trauern um tote Juden, so Horn, diene einzig dem Seelenfrieden der Trauernden. Gegen den grassierenden Antisemitismus unserer Tage helfe es wenig.

Vielmehr würden aktuelle Formen der Judenfeindschaft häufig sogar mit dem Verweis abgetan, das sei ja alles nicht so schlimm – schließlich sei der Holocaust ja viel schlimmer gewesen, und der sei nun mal eine Sache der Vergangenheit.

Anne Frank und ihr Abziehbild

Solche Stillstellung der Vergangenheit ist bequem. Sie ist die Grundlage einer Heilsgeschichte, nach der auf die Apokalypse stets der Sieg des Guten folgt. Dorn demonstriert das am Beispiel Anne Franks – der realen jüdischen Schriftstellerin und ihres medialen Abziehbildes. Bewundert werde Frank vor allem für ihren unerschütterlichen Optimismus, wie er in ihrem millionenfach verkauften Tagebuch zum Ausdruck kommt.

Dass sich dieser Optimismus im Nachhinein als grundlos herausstellte, weil Frank im Februar oder März 1945 an den vorsätzlich katastrophalen Haftbedingungen im KZ Bergen-Belsen starb (das genaue Datum und die genaue Todesursache sind bis heute unbekannt), spielt in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch kaum eine Rolle.

„Die am häufigsten zitierte Zeile aus Franks Tagebuch sind ihre berühmten Worte: ‚Trotz allem glaube ich noch immer, dass die Menschen tief in ihrem Herzen gut sind.‘ Diese Worte“, so Horn, „sind ‚inspirierend‘, d. h. sie schmeicheln uns. Sie geben uns das Gefühl, dass uns die Verfehlungen unserer Zivilisation, die haufenweise ermordete Mädchen zulassen, verziehen werden – und wenn diese Worte von einem ermordeten Mädchen stammen, dann müssen wir ja wohl freigesprochen werden, denn sie müssen ja wahr sein.“

Zu Recht weist Horn darauf hin, dass dieses „Geschenk der Gnade und der Absolution“ eine uralte christliche Sehnsucht ist. Es sei „viel befriedigender zu glauben, dass ein unschuldiges totes Mädchen uns Gnade geschenkt hat, als das Offensichtliche zu erkennen: Frank schrieb über Menschen, die ‚tief in ihrem Herzen gut sind‘ sind, bevor sie Menschen traf, die es nicht waren. Drei Wochen, nachdem sie diese Worte geschrieben hatte, begegnete sie Menschen, die es nicht waren.“

Jüdische Geschichte der chinesischen Stadt Harbin

Ein weiteres Kapitel von Horns Buch handelt von der jüdischen Geschichte der chinesischen Stadt Harbin in der Mandschurei und ihrer heutigen staatlich betriebenen Vermarktung. Als Harbin um die Wende zum 20. Jahrhundert zum Verwaltungszentrum für den Ausbau der Transsibirischen Eisenbahn wurde, siedelten sich Tausende aus dem Russischen Reich stammende Juden an, wo sie Opfer von Verfolgung und Unterdrückung gewesen waren, und machten die Stadt zu einem urbanen und kulturellen Zentrum.

1909 wurde die Hauptsynagoge eingeweiht, in den 1920er Jahren lebten über 20.000 Juden in Harbin. Hundert Jahre später ist die Synagoge aufwändig restauriert und in eine Konzerthalle umfunktioniert worden. Gemeinsam mit dem Harbin Museum of Jewish History and Culture, das in der 1921 eingeweihten Neuen Synagoge untergebracht ist, bildet das instandgesetzte ehemalige Gotteshaus das Zentrum des denkmalgeschützten jüdischen Viertels der Stadt.

Jüdinnen und Juden leben dort allerdings nicht mehr. Nach der Oktoberrevolution flohen auch zahlreiche russische Konterrevolutionäre nach Harbin, wo sie eine faschistische und radikal antisemitische Partei gründeten. 1931 steckten sie die Hauptsynagoge in Brand. Im selben Jahr fiel die japanische Armee in die Stadt ein.

Zionistische Bewegung verfolgt

Unter japanischer Herrschaft begann für Jüdinnen und Juden eine Zeit der Unterdrückung und des Terrors. Viele von ihnen flohen nach Schanghai, Palästina und Nordamerika. Als Harbin 1945 für neun Monate unter sowjetische Herrschaft geriet, wurde die Unterdrückungspolitik von den neuen Machthabern unter neuer Programmatik fortgesetzt. Vor allem die zionistische Bewegung, die lokal stark verankert war, wurde massiv verfolgt, Hunderte Juden in Arbeitslager verschleppt.

Als schließlich 1949 die chinesischen Maoisten die Kontrolle übernahmen, lebten nur noch etwa 1.000 Juden in der Stadt. Auch von den neuen Machthabern wurden sie drangsaliert, ihrer Habe beraubt und in den neu gegründeten Staat Israel getrieben. 1963 wurde die letzte jüdische Einrichtung geschlossen. Die chinesische Regierung beschlagnahmte und verstaatlichte alle Gemeindebauten und eignete sich unter sozialistischen Vorzeichen das Eigentum der emigrierten Bürger an.

Von all dem sei im heutigen jüdischen Disneyland nichts zu sehen, berichtet Horn. Stattdessen werde die Rekonstruktion des jüdischen Harbin genutzt, um Touristen anzulocken und ein positives Bild von China zu verbreiten. „Das jüdische Volk hat in der Vergangenheit lange Zeit unter Verfolgung gelitten, aber es hat in China eine Heimat gefunden und wurde von den Chinesen gut behandelt“, sagt etwa Chen Hao­su, Präsident der chinesischen Regierungsorganisation Volksvereinigung für Freundschaft mit dem Ausland.

Dara Horn: „People Love Dead Jews: Reports from a Haunted Present“. W. W. Norton & Company, New York u. London 2022, 242 Seiten, 17,95 Dollar

Dieses Narrativ, das sich auch im Shanghai Jewish Refugees Museum findet, hat mit der realen Geschichte der Juden im kommunistischen China nur wenig zu tun. Es hilft dem autoritären Staat aber, sich als Gegenmodell zum antisemitischen Westen und Japans zu inszenieren.

Juden nur als Gespenster der Vergangenheit

So wie im ehemaligen jüdischen Viertel Harbins Juden nur als Gespenster der Vergangenheit auftauchen, seien die heutigen Juden im Kopf vieler Chinesen lediglich Imaginationen. Die meisten Chinesen, merkt Horn an, wüssten so gut wie nichts über Juden oder das Judentum. Sie zitiert Lihong Song, Professor für Jüdische Studien an der Universität Nanjing, mit den Worten, die erste Assoziation seiner Studenten bei dem Wort „Juden“ sei deren Klugheit und Reichtum.

Solches „Wissen“ kommt nicht von ungefähr: Die Regale chinesischer Buchläden sind vollgestopft mit Titeln wie „Unveiling the Secrets of Jewish Success in the World Economy“, „What’s Behind Jewish Excellence?“, „The Financial Empire of the Rothschilds“, „Talmudic Wisdom in Conducting Business“ und „Talmud: The Greatest Jewish Bible for Making Money“.

Diese Form der Judeophilie, die auch in Südkorea weit verbreitet ist, wo gekürzte Talmudausgaben regelrechte Bestseller sind, klingt zunächst weniger dramatisch als die mitunter tödliche Judenfeindschaft in Europa, Nordamerika oder im Nahen Osten.

Aber Horn weist darauf hin, dass enttäuschte Liebe leicht in ihr Gegenteil umschlagen kann. Was also, wenn das nächste Geschäft trotz eingehenden „Talmud“-Studiums floppt? Und was, wenn die erwarteten Millionen von jüdischen Touristen ausbleiben, die Harbin besuchen sollen? Was, wenn der Staat Israel fortfährt, den schleichenden Genozid an den Uiguren anzuprangern, oder gar im Falle eines Angriffs Partei für das bedrohte Taiwan ergreift?

Hilfloser Philosemitismus

Diese Fragen führen zurück zur Situation in Deutschland. Auch hierzulande ist eine bestimmte Form des Philosemitismus in gebildeten Kreisen durchaus verbreitet. Als Objekte der nationalen Gedenkkultur, die die Wiedergutwerdung der Deutschen unter Beweis stellt, nehmen die im Holocaust Ermordeten eine wichtige sinnstiftende Funktion ein. Auch das „blühende Gemeindeleben“ wird in offiziellen Ansprachen gerne als „unverdientes Geschenk“ gerühmt.

Doch sobald Jüdinnen und Juden sich kritisch zu Wort melden und auf antisemitische Hetze und Gewalt im heutigen Deutschland hinweisen, heißt es nur allzu oft: „Habt euch nicht so! Wir haben die Vergangenheit hinter uns gelassen, wir müssen uns nun neuen globalen Herausforderungen stellen!“

Im Kontext des sogenannten Historikerstreits 2.0 forderten die Wortführer der neuen erinnerungspolitischen Initiative, Deutschland müsse sich „entprovinzialisieren“, und meinten damit, den Holocaust endlich in eine allgemeine Gewaltgeschichte des kolonialen Westens einzuordnen – und damit zu nivellieren. Dara Horns Buch zeigt, dass das Hauptproblem der globalen Gedenkkultur nicht die Konkurrenz von Opfernarrativen ist, sondern die Instrumentalisierung der jüdischen Geschichte für allerlei Gutwerdungserzählungen.

Der Autor ist Historiker an der University of California in Berkeley.

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