Essay Politische Kultur in Polen: Im Labor des Populismus

Nicht nur in Polen leben populistische Regierungen von der Schwäche liberaler Demokraten. Sie sind die Folge einer Demokratie-Krise.

Die Regierung mag mit der Zeit unbliebter werden. Das stärkt aber nicht automatisch die Opposition Illustration: Eleonore Roedel

Polen ist heute innerhalb Europas das Laboratorium für Populismus in der Praxis. Seit 2015 zeichnet sich das politische Leben durch fieberhafte Hektik aus, eine Reform nach der anderen wird beschleunigt durchgepeitscht, ohne Navigationssystem. Jarosław Kaczyński, Jahrgang 1949, der theoretisch nur ein einfaches Abgeordnetenmandat für „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) bekleidet, praktisch aber über die größte Macht im Staat verfügt, entstammt dem konservativen Flügel der langsam abdankenden Solidarność-Generation, der ehemaligen demokratischen Opposition gegen den Kommunismus. Seine Regierungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie alle Veränderungen mit einem Mal herbeiführen wollen und dabei programmatisch weder Gegenstimmen, noch sachliche Zweifel anzuhören pflegen.

Ein gutes Beispiel für diese Strategie ist die jüngst von Kaczyński losgetretene Forderung nach deutschen Kriegsreparationen. Die polnische Re­gierung verzichtete 1953 auf Repa­ra­tionen. PiS argumentiert nun jedoch, dass die damalige Entscheidung durch keinen souveränen Staat getroffen wurde, da die Volks­re­pu­blik (1944–1989) vom sowjetischen Besatzer abhängig gewesen sei. Zudem betraf der offizielle Verzicht nur die DDR, während das heutige Deutschland in der Rechtskontinuität der Bundes­re­pu­blik steht. Gesellschaftliche Autoritäten haben diese Idee heftig kritisiert.

Der Wahlslogan der PiS im Jahr 2015 versprach einen „guten Wandel“. Viele Polen glaubten, dass eine nationalkonservative Regierung nach acht Jahren unter der liberalkonservativen Bürgerplattform eine demokratische Erneuerung mit sich bringen würde. Rasch stellte sich heraus, das PiS einen Regierungsstil nach dem Motto „Wir“ gegen „die Anderen“ zu bieten hat. Ankündigungen der politischen Kompromisssuche oder des Zuhörens haben sich in Luft aufgelöst.

Heute verwendet ein Teil der Polinnen und Polen diese Formel nur noch ironisch. Der „gute Wandel“ hat seit Beginn der Regierung Beata Szydłos viele Bereiche wie das Justizwesen, die Armee und den öffentlichen Dienst erfasst. Der jüngste Versuch, eine nicht verfassungsgemäße Reform polnischer Gerichte durchzubringen, rief tausendfache Proteste hervor. Bilder von Demonstrierenden mit Kerzen gingen um die Welt. Schließlich legte der von PiS ins Amt gebrachte Präsident Andrzej Duda gegen zwei von drei Gesetze der PiS-Parlamentsmehrheit sein Veto ein.

Um zu verstehen, was derzeit in Polen geschieht, muss man auf das Jahr 2015 zurückblicken. Es war ein bitteres Jahr. Für den liberalen und linken Teil der So­li­dar­ność-Eliten resultierte diese Bitterkeit aus dem Wahlsieg ihres größten Gegners Ja­ro­sław Ka­czyń­ski. In den Augen jüngerer Jahrgänge machte sich dagegen vor allem aufgrund des Zustands der liberal-demokratischen Eliten Enttäuschung breit. Sowohl der Parlaments- als auch der Präsidentschaftswahlkampf jenes Jahres entblößten die intellektuelle, politische und strategische Krise dieser Eliten und ihre Verachtung für den politischen Gegner.

Der Liberalismus hörte auf, ein moralisches Ideal zu sein. Immer häufiger war er nur ein rhetorisches Manöver. Politiker, die sich selbst als Liberale bezeichneten, sahen beispielsweise keinen Anlass, die Aufklärung geheimer CIA-Gefängnisse auf polnischem Territorium Anfang der 2000er Jahre, in denen sehr wahrscheinlich gefoltert wurde, voranzutreiben.

Von der jüngeren Generation entfremdet

Liberal-konservative Parteien wie die Bürgerplattform (PO) haben sich damals von der jungen Generation entfremdet. Wer auf deren prekäre Lage auf dem polnischen Arbeitsmarkt hinwies, bekam keinen Vorschlag zur Verbesserung der Situation zu hören. Symbolisch für den Vorwurf der Arroganz und Blindheit gegenüber sozialen Problemen wurde die Aussage des damaligen Präsidenten Bronisław Komorowski während seines Wahlkampfs gegen Andrzej Duda. Auf die Frage eines jungen Warschauers, was er zu tun gedenke, damit Menschen wie er nicht zum Geld verdienen nach England auswandern müssten, antwortete er: „Wechseln Sie bitte den Job und nehmen Sie einen Kredit auf.“

Als Partei, die hervorragend auf diese sozialen Ängste einzugehen vermochte, erwies sich dagegen zu jener Zeit die PiS. Kaczyńskis Partei stellte sich als gemäßigt, Werten verpflichtet und sensibel in sozialen Fragen dar. Sie versprach zudem eine Erneuerung der politischen Bühne: Eine Frau sollte Premierministerin werden und ein Politiker aus der jüngeren Generation Präsident.

Kurz nach der Wahl wechselte die Partei ihre Rhetorik von einer gemäßigten zu einer deutlich aggressiveren Sprache. Das Programm einer demokratischen Reparatur des Staats wandte sich zu einem Prozess der restlosen Übernahme staatlicher Institutionen durch eine Partei.

Das Vorgehen Jarosław Kaczyńskis mag von außen unverständlich erscheinen. Es lässt sich jedoch verstehen, wenn man weiß, dass er sich danach sehnt, das Jahr 1989 zu wiederholen. Dies hängt mit der Überzeugung zusammen, dass am Runden Tisch vor 28 Jahren ein fauler Kompromiss geschlossen worden ist. Demnach war die Verständigung mit den moskautreuen Kommunisten im Jahr 1989 zwar taktisch geboten, auf längere Sicht aber nicht hinnehmbar. Die Volksrepublik war ein fremdgesteuerter Staat, auf dessen Gebiet sowjetische Truppen stationiert waren und Macht im Namen der UdSSR ausgeübt wurde. ­

Dieser moralische Treibstoff von Kaczyńskis Politik ist jedoch in zweierlei Hinsicht anachronistisch. Erstens, weil in den vergangenen dreißig Jahren Generationen aufgewachsen sind, für die die 3. Republik mit all ihren Vor- und Nachteilen das politische Zuhause ist. Für sie klingt die von PiS lancierte Losung der „Dekommunisierung“ schlicht absurd. Zweitens ignoriert er die von Polen in den vergangenen Jahrzehnten unterzeichneten internationalen Verträge und die Mitgliedschaft in internationalen Bündnisstrukturen wie der EU und der Nato.

Keine überzeugenden Visionen

Trotz der konfrontativen PiS-Politik waren die Oppositionsparteien in den letzten zwei Jahren nicht in der Lage, überzeugende Visionen für eine Staatsreform vorzulegen und zumindest für einen Moment PiS in Umfragen einzuholen. Innenpolitisch betreibt PiS neben der Säuberung staatlicher Institutionen eine rea­le Sozialpolitik. Umfragen sehen sie daher konstant bei über 38 Prozent.

Die weit gefasste Opposition versucht immer noch, sich in der neuen Situation zurechtzufinden. Die hektische Suche nach neuen Gesichtern endete unglücklich. Zum Beispiel wurde eher zufällig ein Informatiker zum Anführer des Komitees zur Verteidigung der Demokratie (KOD), den jedoch Probleme mit der Zahlung von Alimenten und mit finanzieller Transparenz einholten.

Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Es ist unmöglich, die aktuelle Regierung in Warschau mit ihren Versuchen, staatliche Institutionen unter ihre Kontrolle zu bringen und die Verfassung auszuhebeln, milde zu beurteilen. Aber diejenigen, die PiS nicht gewählt haben oder inzwischen ihre Wahlentscheidung bereuen, haben ein Problem mit den Oppositionsparteien PO und „Moderne“, deren Politikern es an Charisma und Autorität fehlt.

Die Unterstützung für beide Parteien zusammen liegt unterhalb der Werte für PiS. Umfragen deuten darauf hin, dass viele regierungskritische junge Menschen nicht für die großen Oppositionsparteien stimmen wollen. Es ist die „ungarische Logik“: Die Popularität der Regierung mag mit der Zeit abnehmen – auf Seiten der Opposition nimmt sie aber nicht automatisch zu. Viele junge Menschen bleiben der Wahl fern oder stimmen für andere populistische Parteien, wie „Kukiz' 15“, eine ephemere Gruppierung, benannt nach einem bekannten Rockmusiker.

„Mein ganzes Land eingeschlossen im „Hätte, Wenn und Aber“, die Polen vom Konjunktiv zerstreut: wären da nicht diese Russen, wären da nicht die da oben“ – textet ein polnischer Rapper in einem sehr populären Stück. Nicht nur in Polen, auch in anderen Ländern – sei es im Großbritannien des Brexit oder in den USA nach Trumps Wahlsieg – drängt sich leicht der Gedanke auf, dass die Demokratie in unseren Staaten besser dran wäre, wenn die Populisten sich endlich in Luft auflösten.

Es ist an der Zeit, sich damit abzufinden, dass sie da sind. Und auch damit, dass sie dem äußeren Anschein zum Trotz nicht Ursache, sondern Folge einer Demokratie-Krise sind. Sie beziehen ihre Energie aus der Schwäche der bisherigen Konstellationen auf der politischen Bühne, aus einem Mangel an sozialem Gehör seitens politischer Führungspersönlichkeiten, aus deren geringer Glaubwürdigkeit und fehlender Ernsthaftigkeit.

Übersetzung: Lukas Becht

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ist Chefredakteur der Wochenzeitschrift „Kultura Liberalna“ und tätig am Institut für Recht und Verwaltung der Universität Warschau. Zudem ist er Kodirektor des Programms „Knowledge Bridges“ an der Universität Oxford.

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