Essay Polizeigewalt in Brasilien: Das Erbe der Diktatur

Exzessive Polizeigewalt prägt Brasiliens Alltag. Als Feind wird betrachtet, wer aus Sicht der Elite der Gesellschaft schadet. Noch stören sich zu wenige daran.

Kein Frieden in Brasilien. Die Sicherheitskräfte haben ihre Waffen stets im Anschlag. Bild: dpa

Die Gewalt, die in Brasilien tagtäglich von der Polizei ausgeht, ist erschreckend. Nur ein geringer Teil wird überhaupt publik und auch nur dann, wenn es zu viele Zeugen und Beweise für das Fehlverhalten der Sicherheitskräfte und größere Proteste gibt.

Vier Beispiele aus Rio de Janeiro, allesamt aus den letzten zwei Juliwochen: Zwei Polizisten nehmen zwei mutmaßliche Diebe im Stadtzentrum fest, fahren sie in ein Waldgebiet und schießen auf sie. Einer der beiden Jugendlichen überlebte schwer verletzt und erstattete Anzeige. Die daraufhin überprüfte Videoaufnahme des Streifenwagens zeigt die Beamten, die sich gegenseitig loben und planen, weitere Hinrichtungen vorzunehmen.

In einer Favela erschießen Polizisten zwei Männer und rechtfertigen die tödlichen Schüsse als Einsatz gegen bewaffnete Drogenhändler. Aufgrund von Widersprüchen in der Darstellung ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Mordes. In einer anderen Favela filmt ein Bewohner, wie Polizisten einen bereits überwältigten Mann erschießen. Das Video ist nicht vollständig, der Fall wird untersucht.

Anfang des Jahres hatten Polizisten auf der Suche nach Drogen in einem Armenviertel eine Frau angeschossen und wollten sie daraufhin in ein Krankenhaus fahren. Ein Video zeigt, wie sie die Verletzte Hunderte Meter über die Straße schleifen, nachdem diese aus den Kofferraum – nicht etwa von der Rückbank – des Einsatzwagens gefallen war.

Nur schwarze Schafe?

Die Verantwortlichen für die öffentliche Sicherheit sprechen stets von Ausnahmen oder schwarzen Schafen. Das ist in Brasilien so wie überall: Die Polizei zeigt Korpsgeist, und die Politiker ziehen mit. Sie sind auf die Sicherheitskräfte angewiesen, auch wenn diese sich gegen jede rechtsstaatliche Reform sperren.

Im größten Land Lateinamerikas ist der Kontrast besonders groß. Auf der einen Seite verfügt Brasilien über eine fortschrittliche Verfassung, Ministerien für Menschenrechte und Gleichstellung sowie gut ausgebildete rechtsstaatliche Strukturen, die die Mitsprache aller Bevölkerungsgruppen am politischen System festschreiben. Auf der anderen Seite stehen die repressiven Sicherheitsorgane, die bis heute für den Kampf gegen innere Feinde ausgebildet werden, statt der gesamten Bevölkerung Sicherheit zu garantieren.

Hunderte Menschen bringt die Polizei jedes Jahr allein in Rio de Janeiro um. Laut Menschenrechtsgruppen lagen die Spitzenwerte im vergangenen Jahrzehnt bei durchschnittlich drei Todesopfern täglich. Auch in der Metropole São Paulo wie in fast allen größeren Städten gilt die Polizei als gewalttätig, tödliche Schüsse in Armenvierteln sind die Regel. Fast alle Fälle werden in Polizeiberichten mit „Notwehr“ begründet, „die Banditen haben zuerst geschossen“.

Informelle Todesstrafe

Das Profil der Opfer ist eindeutig: zumeist junge Männer, arm und dunkelhäutig. Die Willkür beschränkt sich nicht nur auf die Polizeieinsätze. Ende Juli berichtete Human Rights Watch von Folter in Gefängnissen und auf Polizeiwachen, insbesondere unmittelbar nach Festnahmen. Im rechtsfreien Raum werden Geständnisse erpresst, und da es in Brasilien keine Haftrichter gibt, sitzen wohl Tausende Menschen monatelang ohne formale Anklage oder Beweise hinter Gittern.

Menschenrechtler sprechen von einer informellen Todesstrafe für diejenigen, die zur falschen Zeit am falschen Ort so aussehen, als wären sie kriminell. Das Problem ist, dass sofort geschossen wird, auf Kopf oder Brust. Viele Brasilianer, beeinflusst von vorverurteilender Berichterstattung in den großen Medien, billigen solch ein Vorgehen. „Es waren doch Kriminelle“, heißt es dann.

Die wohl wichtigste Ursache dieser Gewaltkultur ist die Straflosigkeit. Die Polizisten agieren im sicheren Bewusstsein, dass sie für ihre Taten nicht verfolgt werden. Nur in wenigen Fällen kommt es zu einer Untersuchung, die seltenen Gerichtsprozesse verlaufen meist ergebnislos. Hinzukommt, dass die Militärpolizei, die für die Verbrechensbekämpfung zuständig ist, formal dem Militär und damit einer eigenen Gerichtsbarkeit unterstellt ist. Die Straffreiheit gilt nicht nur für die Beamten auf der Straße. Einsatzleiter und Vorgesetzte werden ebenso wenig zur Rechenschaft gezogen wie Politiker, die vom repressiven Vorgehen der Sicherheitskräfte profitieren.

Zahlreiche Abgeordnete in Rio de Janeiro stehen unter dem Verdacht, mit korrupten Polizisten unter einer Decke zu stecken, die im Westen der Stadt paramilitärische Milizen gründeten und mit Mafiamethoden die Bevölkerung schikanieren. Aktive und ehemalige Militärpolizisten, aber auch Feuerwehrleute und Angestellte privater Sicherheitsunternehmen bilden den Kern dieser paramilitärischen Gruppen. Für die Menschen in den Favelas sind sie bedrohlicher als die von ihnen (den Milizen) vertriebenen Drogengangs. Für den Staat bedeuten sie eine bewaffnete Parallelmacht.

Straflosigkeit für Polizisten und Militärs

Gewalttätige und korrupte Polizisten gibt es nicht nur in Brasilien, sondern in vielen lateinamerikanischen Staaten. Doch Brasilien fällt durch seine extrem hohe Zahl von Todesopfern als Folge der ganz normalen und legalen Polizeiarbeit auf und durch die fast durchgängige Straflosigkeit für Polizisten und Militärs. Letztere als auch die konfrontative Einstellung gegenüber potenziellen Verbrechern sind das Erbe der 20-jährigen Militärdiktatur. Und im Gegensatz zu den Nachbarländern hat in Brasilien bisher keine Aufarbeitung stattgefunden.

Zwar spielt die Armee seit 1985 keine wichtige Rolle mehr. Doch die damals gegründete Militärpolizei, die Zivilpolizei, die bewaffneten Feuerwehrleute und zahlreiche weitere Sicherheitsorgane stehen bis heute in der Tradition des einstigen Unrechtsstaats. Schon in der Ausbildung werden die zukünftigen Polizisten darauf getrimmt, diejenigen als Feinde zu betrachten, die aus Sicht der Elite der Gesellschaft schaden. Dazu zählen Kriminelle, aber auch Obdachlose und ganz pauschal alle Bewohner von Favelas. Denn ihnen wird unterstellt, mit den dort ansässigen Drogenbanden unter eine Decke zu stecken.

Eine Aufarbeitung der Diktatur, die die jetzige Regierung zaghaft und gegen zahlreiche vehemente Widerstände auf den Weg bringt, ist die Voraussetzung für eine Reform der Sicherheitskräfte. Erneut stellt sich das Problem der Straflosigkeit. Entschädigungen für die Opfer der Diktatur gibt es schon lange, und eine Wahrheitskommission ist beauftragt, die Verbrechen von damals zu recherchieren. Doch ein Amnestiegesetz, das von den Militärs und konservativen Politikern, aber auch vom obersten Gerichtshof verteidigt wird, macht juristische Konsequenzen unmöglich.

Der Großteil sieht weg

In demokratischen Staaten mit einer aktiven Zivilgesellschaft ist systematische Polizeigewalt immer auch ein gesellschaftliches Problem. Ein Großteil der Brasilianer sieht weg, und erschreckend viele applaudieren, wenn die Uniformierten ihr brutales Werk verrichten. Auch die Politik misst dem Problem trotz einiger Reformansätze in jüngster Zeit keine große Bedeutung zu.

Der Umstand, dass sich die staatliche Gewalt auf der Straße wie in Gefängnissen vor allem gegen schwarze und arme Menschen richtet, erinnert an eine Form von sozialer Apartheid. Im Gegensatz zum multikulturellen Image Brasiliens ist der Rassismus tief verwurzelt und die Gesellschaft strikt im Arm und Reich gespalten. Jedes Hochhaus, auch bei Neubauten, hat zwei Aufzüge: einen für die Bewohner und einen für die Bediensteten.

Gleichzeitig ist Rassismus per Gesetz verboten, und die Regierung betreibt eine aktive Quotenpolitik. Doch der Rechtsstaat scheint der gesellschaftlichen Realität vorauszueilen. Als letztes Land schaffte Brasilien die Sklaverei ab, und sie prägt bis heute den Alltag bis ins kleinste Detail. Auf einer einsamen Straße werden Schwarze misstrauisch beäugt, insbesondere wenn sie nicht schick gekleidet sind. Potenzielle Verbrecher, sagen diese Blicke und vorverurteilen diese Menschen – genau wie die Polizei bei ihren Einsätzen. Doch wenn es dann zur Sache geht, machen sich die Wohlhabenden nicht die Hände schmutzig. Nur auf den ersten Blick scheint es widersprüchlich, dass die schießenden Polizisten meist ebenso arm und dunkelhäutig sind wie ihre Opfer.

Polizeigewalt war auch ein wichtiges Thema der Massendemonstrationen im Juni vergangenen Jahres. Viele Protestierenden erlebten erstmals selbst das willkürliche wie brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte. Allerdings wurde auf den Straßen in den Stadtzentren nicht scharf geschossen, auch während der Fußballweltmeisterschaft spielten sich die tödlichen Schießereien nur in den Favelas ab. Die Forderung nach Abschaffung der Militärpolizei wird seitdem immer lauter. Doch deren Lobby hält bislang erfolgreich dagegen. Die eigentlichen Opfer seien die Polizisten, die bei den Einsätzen gegen Drogenhändler in den Favelas ihr Leben ließen.

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Journalist und Soziologe, lebt seit neun Jahren in Rio de Janeiro und berichtet für Zeitungen, Agenturen und Radios aus der Region. Arbeitsschwerpunkt sind interkulturelle Medienprojekte wie der Nachrichtenpool Lateinamerika (Mexiko/Berlin) und Pulsar, die Presseagentur des Weltverbands Freier Radios (Amarc) in Lateinamerika.

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