Essay zu Erdogans Angstpolitik: Die Entfesselung des inneren Orients

Für Atatürk war der Islam rückständig. Erdogan gibt den Türken religiöses Selbstbewusstsein zurück und schürt Ängste vor dem Westen.

Erdogan brüllt in ein Mikrofon und zeigt mit ausgestrecktem Arm nach rechts, während Atatürk auf einer Fahne hinter ihm nach links blickt

Staatsgründer Kemal Atatürk blickte nach Westen, Erdogan entfesselt den unterdrückten Stolz der Muslime Foto: ap

War Mustafa Kemal Atatürk ein gläubiger Muslim oder ein gottloser Geselle? Das war eine der Fragen, deren Sinn ich als Kind nicht entschlüsseln konnte. Ich war von frommen Menschen umzingelt. Es wurde viel gebetet und geredet. Aber es wurde auch viel gestritten. Manche wünschten sich ihren Helden Atatürk als einen gläubigen Muslim herbei. Ein Vorbeter, der die ruhmreichen türkischen Armeen kommandierte. Doch Kemal hatte offensichtlich nicht viel für den Glauben seines Volkes übrig. Er träumte von einer europäischen, säkularen Türkei. Nach Osten hin sollte eine unsichtbare Mauer errichtet werden. Arabien und der Islam waren Symbole der Rückständigkeit.

Nirgendwo hat sich der Nationalismus so stark mit dem Fortschrittsglauben verbündet wie in der Türkei. Das Land lehnte sich kulturell und politisch an Europa an. Europa, ein Kontinent, geprägt von Kriegen und Vertreibungen, aber auch die Wiege der Aufklärung. Die türkische Revolution hatte von Anfang an eine philosophische Dimension. Sie wurde von Bürokraten und Künstlern vorangetrieben. Eine modernistische Elite wurde zum Lehrer des Volkes. Die Türkei hatte noch kein Bürgertum, orientierte sich aber an den Normen einer aufgeklärten bürgerlichen Gesellschaft.

Herzstück von Kemals Reformen war die Schriftreform. Die Türken hatten nicht viel Zeit, sich daran zu gewöhnen, nicht mehr mit arabischen Buchstaben zu schreiben, sondern mit den Lateinischen. Nicht nur das Alphabet trennte die Türken von ihrer osmanischen Vergangenheit. Gewöhnungsbedürftig war fast alles, was ihnen der autoritäre Vater Mustafa Kemal binnen einem Jahrzehnt auftischte. Die Gleichberechtigung der Geschlechter, die moderne türkische Frau als selbstbewusste Akteurin in der Öffentlichkeit, ein neues Zivilrecht.

Recep Tayyip Erdoğan ist nun, nach fast einhundert Jahren Pflichtverwestlichung, eine Art Befreier von der lästigen Schulpflicht. Er hat die Ketten des unterjochten Orientalen gelockert. Der Türke schämt sich nicht mehr für seine muslimische Ost­iden­ti­tät. Ein Affront gegen die verwestlichten Türken, gegen die Eliten in den Städten.

Wir alle, die nicht im Klub der Gläubigen die vorgeschriebenen Gebete verrichten, verstehen kaum den Reiz dieser Entfesselung des inneren Orients, die durch die religiös motivierte Politik Tayyip Erdoğans in Gang gesetzt worden ist. Die Frommen lieben ihn dafür und arbeiten doppelt hart, setzen notfalls ihr Leben ein, um die Herrschaft Erdoğans zu stützen.

Die türkische Revolution hatte von Anfang an eine philosophische Dimension. Sie wurde von Bürokraten und Künstlern vorangetrieben. Eine modernistische Elite wurde zum Lehrer des Volkes

Ganz fest formiert hat sich der Eindruck, die westliche Welt würde einen Kreuzzug gegen den starrsinnigen türkischen Präsidenten führen. Hinter allem, was die Türken als Unheil erreicht, steckt eine ausländische Macht. Dieser Eindruck lässt sich nicht durch Ermahnungen aus dem Ausland kontern oder durch wohlmeinende Initiativen für Demokratie und Menschenrechte korrigieren. Dafür hat der Westen kaum noch die moralische Autorität.

Der Westen, was ist das eigentlich? Repräsentiert der ungarische Präsident Orbán mit seiner xenophoben Flüchtlingspolitik den Westen? In meiner Jugend war der Westen die Überwindung des Nationalismus, der Westen war gute Musik, vor allem Rockmusik. Der Westen, das war aber auch schwindende Angst vor den Mächtigen.

In der Türkei ist dieser Westen zu einem Angstfaktor mutiert. Es wird angenommen, dass er den mühsam erreichten türkischen Wohlstand und die Lebensweise der traditionellen, konservativen Islamgläubigen bedroht.

Vor dieser Bedrohung bietet Erdo­ğan mit seiner politischen Bewegung Schutz. Das macht ihn in den Augen der einfachen Leute populär. Er füllt mit seiner antiwestlichen Rhetorik jene Lücke, die der linke, anti­kolo­niale Diskurs hinterlassen hat. Dafür braucht er ein Freund-Feind Schema. Dieses Schema ist die Grundlage eines einfachen Denkens, das die großen Massen erreicht, egal wo sie leben. Ja, es gibt eine islamische Interna­tio­nale jenseits des bizarren „Islamischen Staates“, für den Westen nicht minder gefährlich, da sie die Phobien der Abgehängten bündelt, um Aktionismus zu generieren.

Die Rechten von heute rufen „Lügenpresse“, weil sie sich durch die etablierten Medien nicht vertreten fühlen – ähnlich wie 1968 die Linken. Lesen Sie in der taz.am wochenende vom 8./9. April einen Essay über die Karriere eines Kampfbegriffs. Außerdem: Eine Reportage über einen Hotelier in Bautzen, der Flüchtlinge einziehen ließ und als Herbergsvater glücklich wurde – bis Brandsätze flogen. Und: Wie der Oscar der Glaubwürdigkeit des Schwulen-Dramas „Moonlight“ geschadet hat. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Mitunter ist dieser Aktionismus sogar kreativ. Diese Kreativität konzentriert sich nicht auf den intellektuellen Diskurs. Sie zielt auf praktische Aspekte. Sie kann die Lebensverhältnisse der Menschen verbessern. Wer sich die Schaltpläne des globalisierten Kapitalismus aneignet, sorgt für mehr Produktivität. Allah ist kein Feind des Kapitals. Mit ihm Verbündete können besser leben.

Das ist der Unterschied zwischen den Ideologen des Islamischen Staates und den konservativen türkischen Politikern, die eine zivilgesellschaftliche Umwälzung ihrer Gesellschaften im islamischen Sinne versuchen. In der Türkei hat diese Umwälzung tatsächlich den Zugriff des Staates auf den Einzelnen gelockert. Den Zugriff des laizistischen Staates, wohlgemerkt.

Wie sieht der Zugriff des Erdoğan-Staates aus? Gibt es überhaupt so etwas wie einen Erdoğan-Staat? Die Erfahrung der letzten Jahre deutet in diese Richtung, und mit dem Referendum über die Änderung der türkischen Verfassung am kommenden Wochenende könnte sich dieser Eindruck weiter manifestieren. Dennoch bleibt ein Rest von Protest, eine energetische Widerstandsformel auf dem Boden der zum Machtapparat erstarrten Bewegung Erdoğans.

Unbewaffnete Menschen, die auf Panzer klettern, um die Kanonen zu besiegen, das ist ein Bild, das üblicherweise zumindest unter Freisinnigen für Sympathien sorgt. Nicht so im Falle der Türkei. Als sich in der Putsch­nacht des 15. Juli in der Türkei die Bevölkerung dem Militär entgegenstellte, ertönten aus den Minaretten des Landes islamische Gebetsformeln. Die Menge skandierte „Gott ist groß“. In manchen Teilen der Welt, zu denen auch der unsere zählt, weckt das keine Sympathien. Im Gegenteil – es weckt Assoziationen mit der Enthauptung von Menschen und Terrorattacken. Aber „Gott ist groß“ ist nun einmal auch ein muslimischer Kernspruch, und der Schlachtruf türkischer Krieger, die Europa überrollten. Diese Krieger hat Erdoğan wieder populär gemacht. Eigentlich waren sie schon immer populär, bloß hatte man sie vor den Augen der Welt zu verstecken versucht.

Türkische Seele stattet sich in vergangenen Zeiten aus

Nun gibt es kein Halten mehr. Multinationale Firmen agieren auf demselben Boden wie kriegerische Reiterscharen in historischen Kostümen. Die türkische Seele stattet sich in vergangenen Zeiten aus, während der Leib sich in ultramodernen Konsumtempeln füttern lässt. Auf dem Titel eines Bestsellers, der von politischen Führern handelt, die den Lauf der Geschichte verändert haben, sind Napoleon, Konfuzius, Abraham Lincoln und Adolf Hitler nebeneinander abgebildet. Kaum eine moralische Kategorie scheint die Betrachter in der Türkei vor solchen abenteuerlichen Kombinationen zu bewahren. Die Diskrepanzen bleiben unbehandelt stehen.

Die Taubheit für die Wunden der anderen ist sicher nicht zum ersten Mal in der Türkei diagnostiziert worden. Aber sie ist gerade dort, wo die Erwartung einer Heilung der kulturellen Risse besonders hoch war, keine Marginalie. Die Türken sind enttäuscht, und sie enttäuschen andere. Das ist die Basis einer schwierigen Kommunikation, die nur knapp unter der Schwelle der kriegerischen Auseinandersetzung verläuft.

In sinnentleerten Debatten berühren sich Verschwörungstheorien, Halbwahrheiten und ideologische Floskeln. Widersprüche werden einfach hingenommen und nicht weiter hinterfragt. Wollte die Partei Erdoğans die Türkei nicht demokratisieren und Frieden mit den Kurden schließen? Die Wähler aber geben ihre Stimme nicht für das Parteiprogramm ab. Sie wählen die markigen Sprüche des Präsidenten. Auch um solche Widersprüchlichkeiten zu verdecken, wird die freie Entfaltung des kritischen Denkens verhindert. Der Club der Entrechteten produziert unter den Muslimen in erster Linie Empfindlichkeiten und schlachtet diese aus, um zu mobilisieren. Eine kritische Reflexion erscheint da als zersetzende Kraft. Selbstzweifel müssen getilgt werden.

Meine Freunde von früher streiten sich nicht mehr um Atatürk. Sie streiten um Erdoğan. Immer geht es um einen starken Mann, der einem das Denken abnimmt. Aus diesem Humus entstanden die faschistischen Bewegungen in Europa. Sie wurden befeuert durch den großen Weltkrieg, der viele Illusionen zerstörte. Heute bedroht das Scheitern an der Globalisierung die demokratischen politischen Kulturen weltweit. Der muslimische Populismus macht da keine Ausnahme.

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