Esther Kinsky in Leipzig ausgezeichnet: Kleine Fluchten in die Schweigsamkeit

Erzählschema aufbrechen, das gelingt Esther Kinsky in ihrem Roman „Hain“, für den sie den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hat.

Eine lachende Frau wird in einer Menschenmenge umarmt.

Esther Kinsky freut sich mit ihrem Publikum in Leipzig über den Preis Foto: Monika Skolimowska

Nichts ist im Grunde buchmessenfremder als die Literatur. Wenn einem die Preisträgerin Esther Kinsky begegnete, konnte einem das auffallen. Im kleinen Kreis, wenn sie auf Übersetzerkollegen traf – sie arbeitet ja auch als Übersetzerin – oder auf Verlagsmenschen, die sie kannte, wirkte sie ganz zugewandt. Inmitten des Trubels aber hat sie etwas grundsätzlich Irritiertes, etwas von Hier-gehöre-ich-nicht-hin.

Von der Preisverleihung gibt es ein Pressefoto, auf dem sie in der Riege der PreisträgerInnen ganz links steht und irgendwohin schaut. Bücher schreiben kann sie. Wichtige Autorin darstellen noch nicht so richtig.

Aber eigentlich ist das auch ein schönes Bild, es passt zu ihrem Roman. So eine Buchmesse erzählt viel von Anfängen und Dabeiseinsfreude. Junge Menschen, die zum ersten Mal auf einer Verlagsparty sind und ihre Initiation feiern. Aufgeregte Leserinnen, die durch die Messegänge schleichen, auf der Suche nach ihren Lieblingsautoren.

Esther Kinskys Roman „Hain“ erzählt von etwas anderem. Davon, dass das Leben weitergeht, auch wenn etwas zu Ende gegangen ist; nur, dass man es manchmal nicht in das Erzählschema von Anfang, Mitte und Schluss hineingedrückt bekommt.

Ein Trauerbild von Fra Angelico

Auch Esther Kinskys „Hain“ hat drei Teile, aber sie sind eher so angeordnet wie das dreiteilige Trauerbild von Fra Angelico, das sie ganz am Schluss beschreibt: Es gibt eine Gleichzeitigkeit von Begrüßung, dem Weiterleben der Hinterbliebenen und von Tod.

Es ist ein Buch, bei dem man sich in Gesprächen in diese kleinen Floskeln flüchtet: Ja, manchmal sei es halt „poetisch“ oder auch „elegisch“ und oft auch „lakonisch“.

Anlass für die Ich-Erzählerin, mit dem Erzählen anzufangen, ist der Tod ihres Lebenspartners. Erzählt wird aber auch viel vom längst gestorbenen Vater, der dem Kind und der Jugendlichen fremd geblieben ist mit seinen vielen kleinen Fluchten von seiner eigenen Familie: in die Kneipe, in die Schweigsamkeit oder auch nur zu so ausgedehnten Schwimmstunden, dass die Mutter am Strand immer schon zu einem Opernglas griff und aufs Meer nach ihm Ausschau hielt.

Übergänge und Erinnerungen

Es ist ein Buch, bei dem man sich in Gesprächen in diese kleinen Floskeln flüchtet: Ja, manchmal sei es halt „poetisch“ oder auch „elegisch“ und oft auch „lakonisch“. Und zugleich ist es ein Buch, mit dem man gut allein sein kann und das einen in den Momenten, in denen es einen erwischt, daran erinnert, dass es immer man selbst ist, der sein Leben lebt. Außerdem wäre es ganz schön, wenn bald ein versierter Philologe daranginge, genau auseinanderzunehmen, wie hier die Übergänge zwischen Landschafts- und Fotobeschreibungen, zwischen den Road Trips durch Italien und den Ausflügen in die Erinnerungen funktionieren.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Aktuelle Kommentare zur Gegenwart enthält das Buch nicht. Na ja, untergründig vielleicht dann doch. Unter der Überschrift „Migration“ ist einmal von der Wanderung der Aale die Rede, die auf ihrem Rückweg ins Sargassomeer auch Strecken über Land zurücklegen. „Noch lange verfolgte mich die Vorstellung, versehentlich abends auf eine Wiese zu geraten, über die Tausende Aale, sich in unglaublicher Anstrengung windend, durchs Dunkel vorwärts klatschten, einer sagenhaften Heimat zu.“

Hinter der Oberfläche dieses Satzes steckt so viel Erschrecken über die Härten des Lebens, aber auch so viel Bereitschaft zu Empathie, wie sie die Ausgrenzer in den Gegenwartsdebatten wohl niemals aufbringen werden.

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