Etablierte Rechtsextreme in Anklam: Die Stadt ohne Zeugen

In Anklam herrscht Angst vor den Rechten. Viele Bürger wären froh, wenn die Stadt ihr braunes Image los würde, doch sie scheuen das offene Engagement.

Die NPD nennt Anklam einen "nationalen Leuchtturm". Bild: DWerner / photocase.com

ANKLAM taz | Es war ein sonniger Samstagmorgen im Juli, als der Bürgermeister seine Stadt nicht wiedererkannte. Über Nacht war sie gesäubert worden von allen Zeichen des Protests. Und zwar gründlich. Das große Banner am Rathausbalkon - verschwunden. Knapp 200 Plakate - abgehängt. Sechs Großaufsteller an den Zufahrtsstraßen - zerstört. Ein Transparent am Stadttor - mit Farbbeuteln beworfen.

Sogar direkt vor dem Eingang der Polizeidirektion war ein Plakat gestohlen worden. "Angeblich alles unbemerkt", sagt Bürgermeister Michael Galander spitz. Soll er das glauben? "Da müsste ja ein Beamter mit dem Kopf auf der Theke geschlafen haben!"

Mehrere tausend Euro hatte die Stadtverwaltung ausgegeben, damit die NPD bei ihrer Demonstration an diesem letzten Julitag von einer Mahnung begleitet würde: "Kein Ort für Neonazis in Anklam". So stand es auf all den gelben Schildern. Doch nun hatten die Neonazis über Nacht das Gegenteil bewiesen.

Niemand hat was gesehen

Der Bürgermeister bemüht sich um einen sachlichen Ton. Es fällt ihm schwer. Als er im Juli bei Anklamer Einzelhändlern anfragte, ob sie eines der Protestplakate in ihr Schaufenster kleben würden, antworteten ihm selbst Geschäftsleute, die im Kommunalparlament aktiv sind: "Nur, wenn's alle aufhängen." Die Demokraten, berichtet Galander, hätten um ihre Schaufensterscheiben gefürchtet. Als der Bürgermeister das Banner gegen rechts am Rathaus aufspannte, half ihm eine Angestellte der Stadtverwaltung. Eine "wirklich engagierte Frau", versichert er. Aber um keinen Preis habe sie auf einem Foto von der Aktion in der Lokalzeitung zu sehen sein wollen - aus Sorge um ihre Familie. "Das kann doch nicht der Weg sein", sagt der Bürgermeister. "Das signalisiert doch der NPD nur: Ihr habt hier die Macht!"

Drei Strafanzeigen hat er erstattet, er hat an die Einwohner appelliert, der Polizei wenigstens anonym Hinweise auf die Täter zu liefern. Nichts ist passiert. Außer, dass Rechtsextreme im Internet höhnten: "Engagierte Bürger" hätten binnen wenigen Stunden "nahezu alle Hinterlassenschaften der demokratischen Provokation" in Anklam erfolgreich entfernt! Eine regionale Neonazi-Plattform stellte sogar ein Erinnerungsfoto jenes Banners ins Netz, das der Bürgermeister am Rathausbalkon gehisst hatte. Auf dem Schnappschuss brennt es lichterloh.

Zwei Monate sind seither vergangen. In der Stadt kursiert das Gerücht, in der Nacht vor dem NPD-Aufmarsch seien zwei Neonazi-Trupps durch Anklam gezogen, jeweils vier junge Leute hätten die Plakate von den Laternenmasten geholt, bewacht von Kumpels mit Baseballschlägern. Bewiesen ist das nicht. Denn bei der Polizei hat sich bis heute kein einziger Zeuge des nächtlichen Beutezugs gemeldet.

4. Oktober 2000: Bundeskanzler Gerhard Schröder tritt nach einem spontanen Besuch der Düsseldorfer Synagoge vor die Kameras, er appelliert an sein Land: "Wegschauen ist nicht mehr erlaubt. Wir brauchen einen Aufstand der Anständigen." Sein Aufruf gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit geht um die Welt. Wenige Stunden zuvor waren Brandsätze auf den Eingang der Synagoge geflogen. Eine Tat, die auch deshalb viel Aufsehen erregt, weil in den Monaten zuvor eine Reihe anderer Anschläge und Überfälle das Land erschüttert hat: Im Juni 2000 traten Neonazis in Dessau den Mosambikaner Alberto Adriano zu Tode. Im Juli 2000 wurden bei einem Sprengstoffanschlag an einer S-Bahn-Haltestelle in Düsseldorf jüdische Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion lebensgefährlich verletzt. Dieser Vorfall ist bis heute nicht aufgeklärt worden. Und den Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge haben - entgegen ersten Vermutungen - nicht Rechtsextreme begangen, sondern zwei junge arabische Einwanderer. Im Oktober 2000 aber gelten die drei Taten als Indizien für einen besorgniserregenden Trend: die wachsende Gefahr von rechts.

Das Ermittlungsverfahren werde vermutlich eingestellt, sagt der Polizeisprecher. Dann will er noch etwas zu dem Plakatklau vor der Polizeiwache loswerden: Bei der Anklamer Polizei, versichert er, habe niemand weggeschaut. Bloß seien nachts vor den Fenstern immer die Jalousien zugezogen. Und für die Bewachung des Polizeigebäudes sei außerdem ein privater Pförtnerdienst zuständig. Eine Sparmaßnahme.

So ist das in Anklam, 13.000 Einwohner, knapp 200 Kilometer nordöstlich von Berlin. Der "Aufstand der Anständigen", den Bundeskanzler Gerhard Schröder vor zehn Jahren forderte, hier ist er ausgefallen. Längst werben in Mecklenburg-Vorpommern die Rechtsextremen mit seiner Parole für ihre Rebellion gegen das "System". "Aufstand der Anständigen" heißt eine Rechtsrock-Ballade, die seit Monaten auf der Internetseite des NPD-Landesverbandes Mecklenburg-Vorpommern prominent platziert ist.

In Deutschland findet man dutzende Orte, wo Neonazis auf wenig Widerstand stoßen. Aber in kaum einer Stadt gehört Rechtsextremismus inzwischen so selbstverständlich zum Alltag wie hier. Die NPD nennt die Stadt einen "nationalen Leuchtturm".

Als Michael Andrejewski vor sieben Jahren aus dem Westen nach Anklam kam, war er arbeitslos und bezog Sozialhilfe. Heute kann der Jurist gut leben von rechtsextremer Politik. Im Sommer 2009 zog Andrejewski für die NPD bereits zum zweiten Mal in den Stadtrat ein. Auch im Kreistag Ostvorpommern ist er wieder vertreten. Und seit 2006 sitzt der NPD-Politiker obendrein im Schweriner Landtag. Er betreibt ein Bürgerbüro in Anklam, auf halbem Weg zwischen Bahnhof und Marktplatz. Dort lädt er montags zur kostenlosen Hartz-IV-Beratung.

Das Gebäude, früher ein Supermarkt, haben Neonazis 2007 bei einer Zwangsversteigerung erworben. Im gleichen Jahr kaufte ein Rechtsextremer auch eine leer stehende Backfabrik hinter dem Stadtpark. Mehrmals im Jahr geben Neonazis den Anklamer Boten heraus, ein Gratisblatt, vier Seiten, Farbdruck, verteilen es an tausende Haushalte. Im Einkaufszentrum am Marktplatz gehört rechtsextreme Presse zum Standardsortiment. "National-Zeitung hab ick, is nur grad ausverkauft", ruft die Kioskverkäuferin freundlich. "Kommt Freitag wieder rein!" Eine Studie des Sozialforschers Wilhelm Heitmeyer über Anklam ergab: 34 Prozent der Einwohner halten die NPD mittlerweile für eine ganz normale Partei. Und von den anderen 66 Prozent machen sich viele lieber unsichtbar.

Die heruntergekommene Backfabrik hat neue Fenster bekommen. Drinnen wird gehämmert, auf dem Hof ist ein Baufahrzeug im Einsatz. Was haben die Rechtsextremen vor mit dem Gelände?

Vom Ärztehaus auf der anderen Straßenseite hat man einen Panoramablick auf die Anlage. Aber, sagt die Frauenärztin Christiane Becker, was dort laufe, bekomme sie nicht wirklich mit. Die Rechtsextremen verwendeten teures Baumaterial, das sei ihr aufgefallen. Und dass man keine Hinweise auf deren Ideologie am Gebäude sehe: "Die passen sich an." Geheuer sind ihr die neuen Nachbarn nicht: "Im Mondschein möchte man denen nicht begegnen!" In der Apotheke im Erdgeschoss fällt die Auskunft kürzer aus. "Wir können dazu nichts sagen", versichert die Frau hinterm Tresen. Dann verweist sie auf "den Herrn Hoffmann" vom Anklamer Verein "Bunt statt braun". Der kenne sich aus in solchen Fragen.

Der Verein ist vor Jahren eingeschlafen. Und Günther Hoffmann, einer der früheren Mitstreiter, sagt: "Ich glaube, Angst ist hier inzwischen ein ganz, ganz wichtiger Faktor."

Gegner sind Zugezogene

Der Theatermann zog Ende der 90er Jahre mit Frau und Kind aus Berlin in einen Weiler südlich von Anklam. Als die Bundesregierung 2002 eine Netzwerkstelle gegen rechts in der Stadt schuf, machte Hoffmann sein Ehrenamt zum Beruf. Eine Arbeit für Menschen mit guten Nerven. Mal stellten die Neonazis einen Steckbrief über ihn ins Internet, mal beschimpften sie ihn als "Nestbeschmutzer". Als vor ein paar Monaten Hetzplakate gegen den Landesinnenminister Lorenz Caffier auftauchten, war als V.i.s.d.P. Günther Hoffmann angegeben. Ein Gruß der Szene an ihren liebsten Feind.

Hoffmann sitzt in seinem Wohnzimmer am Rechner, er sichtet Fotos von Neonazi-Aufmärschen in der Region. Unter den Demonstranten immer wieder "Anabolika-Nazis", wie er die schwarz gekleideten, üppig tätowierten Muskelpakete auf den Bildern nennt. "Wenn solche Typen in ihrer Kluft auftreten, dann verbreiten die natürlich Angst und Schrecken", sagt er. Daran ändere auch die Tatsache nichts, dass die Szene in der Region seit Jahren bewusst auf gewalttätige Übergriffe verzichte - weil Krawall ihrem Image schade. "Denn wann die Rechten wieder zuschlagen, entscheiden allein die."

Auch andere Fachleute sind überzeugt, dass diffuse Ängste das Engagement der Menschen in der Region bremsen. Nicht nur die Furcht vor Gewalt, sondern auch die Sorge, sich zum Außenseiter zu machen. Der Politikwissenschaftler Dierk Borstel hat für seine Doktorarbeit über Rechtsextremismus in Ostvorpommern viele Monate in Anklam geforscht. Fast jeder hier, erzählt er, habe inzwischen einen Rechtsextremen im persönlichen Umfeld - in der eigenen Familie, in der Nachbarwohnung, im Kollegenkreis. Wer sich offen gegen die NPD stelle, müsse es also mit Verwandten, Freunden oder nahen Bekannten aufnehmen. Und davor schreckten viele zurück.

Michael Galander hielt solche Entwicklungen bis vor wenigen Monaten für zweitrangig. Der parteilose Bauunternehmer aus Niedersachsen war gerade einmal 32 Jahre alt, als die Anklamer ihn 2002 erstmals ins Rathaus wählten. Galander versprach, ihre Stadt zu sanieren. Seine Methoden sind umstritten. Wegen Korruptionsverdachts wurde er 25 Monate vom Amt suspendiert, das Verfahren liegt jetzt beim Oberlandesgericht. Jahrelang klagte Galander offen über die ineffiziente Kommunalpolitik in Anklam, wünschte sich eine "Demokratur" herbei. Heute räumt er ein: "Wir haben den Rechtsextremen hier zu viel Spielraum gelassen." Doch das sei nun Geschichte. "Wir sind in einer Umbruchphase", verspricht der Bürgermeister. In Anklam solle bald ein "neues Zeitalter" beginnen.

Und natürlich wünschten sich viele Bürger nichts mehr als das: eine Stadt, die endlich erfreuliche Schlagzeilen macht und wegkommt von ihrem Image als "Hauptstadt Dunkeldeutschlands", wie ein Zeit-Reporter es abschätzig formulierte. Nur wie soll die Wende gelingen? Seit Wochen lässt der Bürgermeister die Rechtsextremen mit ihren Anträgen für ein NPD-Kinderfest in Anklam abblitzen und versichert, auf dem Gelände seien bereits andere Veranstaltungen geplant. Keinen Meter will er den Neonazis mehr lassen. Doch der NPD-Mann Andrejewski hat inzwischen mehr als 50 Termine bis zum nächsten Sommer angemeldet. Der Machtkampf ist eröffnet. Und ohne die Hilfe der Bürger kann Galander ihn nicht gewinnen.

Die Profis sollen helfen

Antje Enke zählt zu jenen in Anklam, die notfalls mit dem Kinderwagen losziehen, wenn es gilt, gegen einen Infostand der NPD zu protestieren. Damit überhaupt jemand erscheint. Seit vergangenem Sommer sitzt die Mutter dreier Kinder im Kreistag, als parteilose Kandidatin der Grünen. Die Familie hat es sich am Peeneufer hübsch gemacht: ein dunkelrotes Holzhaus mit weißer Veranda, daneben eine Kanustation mit Café. Aus dem Bootsverleih der Enkes ist über die Jahre ein Reiseveranstalter für Flusstourismus geworden. Antje Enke kümmert sich um das Marketing.

Auf dem Küchentisch funkelt ein Pokal in der Morgensonne. Ein Tourismuspreis der EU-Kommission, verliehen an die Flusslandschaft Vorpommern. Antje Enke hat ihn gerade aus Brüssel nach Hause geholt. Sie wünscht sich, dass der Preis ein "Mutmacher" für ihre Region wird: "Man müsste die Leute ermutigen zu sagen: Ich überlass denen nicht meine schöne Heimat!"

Antje Enke ist besorgt über die "Mutlosigkeit" in ihrer Stadt. Sie stammt nicht von hier, hat lange in Leipzig gelebt. Der Fatalismus in Anklam bedrückt sie. Als Geschäftsfrau verstehe sie schon, dass Händler aus Sorge um ihre Schaufenster kein Plakat gegen rechts aufhängen wollten. "Ich finde das aber schlimm. Das geht doch nicht, dass sich hier niemand mehr aus der Deckung wagt." Der Anklamer Ring für Handwerk und Gewerbe solle sich des Problems annehmen, sagt sie. Ihr ist das Thema ernst. Manchmal werde sie sogar schon von Urlaubern gefragt: Wie sicher ist das bei euch denn noch?

"Alle erklärten Gegner der rechtsextremen Szene hier sind Figuren von außen", sagt Annett Freier vom Projekt "Demokratisches Ostvorpommern", einer von zwei staatlich finanzierten Beratungsstellen gegen rechts, die seit 2007 ihre Büros in Anklam haben. Insgesamt sechs Profis arbeiten daran, die Menschen in der Region für Demokratie und Toleranz zu begeistern. Sie beraten Bürgermeister, gehen an die Schulen, versuchen, die versprengten Gegner der rechtsextremen Szene zu vernetzen, mal holen sie brasilianisches Straßentheater in die Region, mal organisieren sie ein Musikfestival.

Als Hilfe zur Selbsthilfe sind die Büros gedacht. Doch in der Stadt verweisen viele inzwischen auf die Profis, wenn sie selbst gefragt wären. Die anderen werden ja dafür bezahlt! Als könnten sechs Leute das Problem einer Region lösen. Annett Freier vermutet: Schuld an diesen Reaktionen sei auch eine "Angst aus DDR-Zeiten", überhaupt laut seine Meinung zu äußern. Sie meint das nicht anklagend. Sie sagt: "Für uns, die wir abends wieder wegfahren, ist der Spott der NPD leicht auszuhalten."

Und vorsichtig sind auch die Profis. Als Ende August die SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles gemeinsam mit der Landessozialministerin nach Anklam reist, steht auf der Einladung an die Presse: "Wir bitten darum, den Besuchstermin nicht als Vorankündigung zu veröffentlichen." Darunter eine Sperrfrist.

Das Ereignis könnte schließlich auch Neonazis interessieren. Die SPD-Frauen besichtigen das Büro des Mobilen Beratungsteams in Anklam, dann eröffnen sie eine Ausstellung über Rechtsextremismus. Dreizehn Schautafeln, aufgestellt in einem Klassenraum im Obergeschoss der Volkshochschule. Der NPD-Mann Andrejewski wohnt gleich gegenüber in einem Plattenbau. Den geladenen Honoratioren erzählt Andrea Nahles, sie habe sich nach Mecklenburg-Vorpommern aufgemacht, weil Rechtsextreme hier so viele Wahlkreisbüros überfallen hätten. Zum Glück seien ihr aber "auch viele couragierte Bürger begegnet". Die SPD-Politikerin sagt ein paar Sätze über die Vorzüge der Demokratie, zum Abschied ruft sie beherzt: "Ich wünsche Ihnen weiter Mut und Erfolg." Michael Galander hat die Hände vor dem Bauch gefaltet, er lächelt geschmeichelt.

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