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Europa der Schrebergärten Sehnsucht nach Helmut Kohl

Unbekannte Kandidaten, nationale Programme, blumige Phrasen: Es gibt keinen ernsthaften EU-Wahlkampf. Dabei geht es um alles.

Kohl (li.) und Mitterand (re.) haben vor Jahren vorgemacht, wie Europa vorangebracht werden kann Foto: Gerard Fouet/dpa

taz FUTURZWEI | In wenigen Wochen wird das Europaparlament neu gewählt, genauer gesagt, am 9. Juni. Doch von ernsthaftem Wahlkampf keine Spur, der dieses Parlament als zukünftiges Machtzentrum der potentiellen Weltmacht Europa skizzieren würde, an dem mit politischer Leidenschaft um die gemeinsame Zukunft gerungen wird. Die Kandidaten der Parteien sind kaum bekannt und in der Öffentlichkeit nicht präsent. In ihren Parteien, in der Innenpolitik ihrer Länder, spielen sie keine Rolle oder keine Rolle mehr. Die Wahlprogramme der Parteien verlängern bloß deren nationale Agenden auf die europäische Ebene. Sie beschwören, blumig allgemein, die Notwendigkeit einer gemeinsamen Zukunft aller Europäer.

„Was ich nicht möchte: dass die EU sich selbst versteht als lose Kombination von 27 Schrebergärten. Wir brauchen vor allem eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik. Die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips wäre noch nicht wirklich die Lösung, wenn nämlich die überstimmten Länder dann sagen: „Geht’s euch brausen, wir halten uns eh nicht dran.“ Alexander van der Bellen, Bundespräsident Österreichs, im Spiegel

Trotz der Vorteile, die die Mitgliedstaaten der EU und alle ihre Bürger aus den bereits vergemeinschafteten und nach Brüssel abgetretenen nationalen Rechten und Zuständigkeiten ziehen, den EU-Gesetzen und Richtlinien, ist Alexander Van der Bellens Befund von der losen Kombination der 27 europäischen Schrebergärten zutreffend.

Im Jahr 2002 ist der Versuch der Mitgliedsstaaten, der EU eine Verfassung zu geben, an den Voten der Bevölkerung in Frankreich und den Niederlanden gescheitert. In Bearbeitung dieses Scheiterns billigt der Lissabon-Vertrag von 2009 der EU den Status einer uneingeschränkten, eigenen Rechtspersönlichkeit zu, was als ein großer Schritt vorwärts zur Vergemeinschaftung aller europäischen Politiken einzuordnen ist. Ansonsten sind seither alle Versuche der EU an den Schrebergärten gescheitert, zum Beispiel mit der immer wieder erhobenen Forderung nach der Einberufung eines Verfassungskonventes oder der Übertragung von immer mehr nationalen Souveränitätsrechte nach Brüssel. Im Gegenteil, die EU wird in allen 27 Schrebergärten von demokratiefeindlichen, rechtsradikalen und nationalistischen Kräften, aber auch von allen anderen Parteien der Mitte als ihr eigenes politisches Versagen verdeckendes bürokratisches Schreckgespenst missbraucht.

Keine selbstbestimmte Zukunft für Nationalstaaten

Dabei steht die machtpolitische Notwendigkeit außer Frage, die EU zu dem einen europäischen Staat aller Europäer fort zu entwickeln. Die 27 Schrebergärten müssen zur Kenntnis nehmen, dass sie allein, im Kontext der aktuellen, weltpolitischen Machtstrukturen, eingeklemmt zwischen den Diktaturen auf der einen und den Demokratien des Westens auf der anderen Seite, als Nationalstaaten keine selbst bestimmbare Zukunft mehr haben. Sie wären allein gar nicht in der Lage, sich gegen die imperialen Ansprüche Russlands und das hegemoniale Vormachtdenken Chinas zu behaupten.

Krieg ist in die europäische Realität zurückgekehrt. Selbstbehauptung ist für viele dieser Schrebergärten zu einer Überlebensfrage geworden, für die es nur gemeinsam mit allen anderen EU-Mitgliedern eine ihre Demokratie sichernde Antwort gibt. Jean-Claude Juncker, der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission hat 2015 die Schaffung einer europäischen Armee gefordert, die in die Nato eingebunden ist. Dazu eine gemeinsam aufgestellte und subventionierte europäische Rüstungsindustrie und eine von neu zu schaffenden EU-Institutionen für alle verantwortete Sicherheitspolitik der EU. In dem knappen Jahrzehnt seither ist in dieser Richtung nichts vorangekommen.

Europa kann trotz vieler Hilfen einzelner Länder das tägliche Bombardieren ukrainischer Städte und Infrastrukturen durch Rußland nicht eindämmen. Derweil behindert das fortwährende Zögern bei der Lieferung notwendiger Abwehrsysteme und das Debattieren über Raushalten und Appeasement die notwendige militärische Unterstützung der Ukraine. Dabei ist es offensichtlich, dass dieses Durcheinander auch die Sicherheit aller europäischen Staaten gefährdet.

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taz FUTURZWEI N°28: Weiterdenken

Wer ist „Der kleine Mann“, wer sind „Die da oben“, wie geht „Weltretten“, wie ist man „auf Augenhöhe“ mit der „hart arbeitenden Bevölkerung“? Sind das Bullshit-Worte mit denen ein produktives Gespräch verhindert wird?

Über Sprache und Worte, die das Weiterdenken behindert.

U.a. mit Samira El Ouassil, Heike-Melba Fendel, Arno Frank, Dana Giesecke, Claudia Kemfert, Wolf Lotter, Nils Minkmar, Bernhard Pörksen, Bernhard Pötter, Florian Schroeder, Paulina Unfried, Harald Welzer und Juli Zeh.

Zur neuen Ausgabe

Auch in der Wirtschafts-, Industrie und Klimapolitik haben nationale Alleingänge keine Perspektive mehr. Europa ist der größte gemeinsame Wirtschaftraum der Welt und braucht eine gemeinsame Handelspolitik zur Sicherung dieses ökonomischen Vorteils gegenüber dem mit unfairen Mitteln konkurrierenden China, aber auch für eine konstruktive Kooperation mit den USA. Es ist nicht nachvollziehbar, dass das Mercosur Abkommen mit den lateinamerikanischen Ländern, das Ceta Abkommen mit Kanada und die Verhandlungen mit Australien über Freihandelsabkommen im südpazifischen Raum an den europäischen Schrebergärten scheitern, wenn dadurch alle europäischen Industrien und der Wohlstand der Europäer gefährdet werden. Für die Transformation der europäischen Industrien zu CO2-freier Produktion werden nicht, wie heute praktiziert, konkurrierende nationale Investitionsprogramme gebraucht, sondern von der EU finanzierte Programme für alle. Dafür ist ein europäischer Haushalt notwendig, aus eigenen EU-Steuern finanziert, europäische Finanzierungen und Refinanzierungen, sprich europäische Kreditaufnahmen. Dass eine europäische Klima- und Energiepolitik jenseits von CO2-Ausstoß und allen fossilen Energieträgern sinnvoller wäre als die aktuelle Schrebergärten-Energiepolitik, versteht sich von selbst.

Allein deutsche Interessen im Vordergrund

Österreichs Bundespräsident Van der Bellen verlangt auf schlitzohrige Art letztlich nichts anderes als einen Bundesstaat Europa mit einem rechtsetzenden EU-Parlament und einer handlungsstarken EU-Regierung. Im bundesdeutschen Europa-Wahlkampf spielt diese Zukunftsperspektive keine Rolle. Stattdessen werden von allen Parteien Fragen einer EU – Verfassung beschwiegen, ignoriert oder ausgebremst. Im Vordergrund stehen in der EU-Politik allein die deutschen Interessen. Helmut Kohl und Francois Mitterand haben vor Jahren vorgemacht, wie Europa von Deutschland und Frankreich vorangebracht werden kann. Bundeskanzler Scholz hat dagegen die ausgestreckte Hand Präsident Macrons vor zwei Jahren ausgeschlagen.

Bevor es nun zu düster wird: Vor einigen Wochen habe ich in der finnischen Hauptstadt Helsinki mit jungen Jurastudentinnen aus ganz Europa diskutiert. Sie studieren dort im Erasmus-Programm der EU und sind allesamt begeisterte Europäerinnen. Von 1987 bis 2017 haben 4,4 Millionen junge Europäer in diesem Programm mindestens ein Semester an Spitzenuniversitäten Europas studiert. Dass sie ihr Studium unter dem Patronat des kosmopolitischen, europäischen Humanisten und Aufklärers Erasmus von Rotterdam absolvieren, gibt ihnen und dem Europa von Morgen eine starke geistige Basis. Ich habe Helsinki mit dem Gefühl verlassen: Bei ihnen als Teil einer zukünftigen kontinentalen Führungselite ist Europas Zukunft in guten Händen. Das zumindest hoffen zu können, erleichtert es mir, die inhaltliche Leere dieses Europa-Wahlkampf zu ertragen.

UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für das Magazin taz FUTURZWEI.