Euthanasie Dokumentationszentrum: Der Kindermord von Lüneburg
In der einstigen „Pflegeanstalt“ Lüneburg ermordeten Ärzte während der NS-Zeit Hunderte Kinder mit Behinderung. Eine Ausstellung dokumentiert vor Ort.
Das Foto von Heinz ist in der Ende August eröffneten Ausstellung zu sehen, die sich mit einem der furchtbarsten Verbrechen der Nationalsozialisten beschäftigt: dem Mord an Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen. Die Umgebung des Orts, an dem das Foto und die Geschichte von Heinz Schäfer präsentiert werden, ist ein Tatort. Es handelt sich um die ehemalige Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg, heute Standort einer psychiatrischen Klinik.
Ein Amtsarzt schrieb offenbar am 15. August 1941 über Heinz, der am nächsten Tag seinen vierten Geburtstag begehen sollte: „Die Unterbringung in eine geschlossene Anstalt ist notwendig.“ Die Nazis hatten 1939 eine Meldepflicht für alle behinderten Kinder eingeführt. Den Eltern wurde erzählt, in der Klinik würde Heinz geheilt. So kam der Junge in die „Kinderfachabteilung“ Lüneburg – als ein Teil von „T4“, dem Programm zum Mord an behinderten Menschen.
Ein offenes, parkähnliches Gelände, die Wiesen unterbrochen von Gebäuden und einem Turm. Dieser frühere Wasserturm ist das Wahrzeichen der Klinik. Dort im Erdgeschoss trifft man auf viele Fotos von Kindern, von Martha, von Fritz oder von Dieter, auch von Heinz. Die Lüneburger „Kinderfachabteilung“ wurde als eine von 31 Einrichtungen dieser Art geschaffen, um diese zu ermorden. Und danach zu sezieren. Etwa 5.000 Mal ist dies in Deutschland bis 1945 geschehen.
Nicht nur Hunderte Kinder sind in Lüneburg ermordet worden. Dort wurden auch ausländische Zwangsarbeiter umgebracht, zusammen rund 2.000 Menschen. 820 weitere Opfer hat man zwangssterilisiert.
Heinz Schäfer wurde am 3. November 1941 von seinem gutgläubigen Vater in die „Kinderfachabteilung“ gebracht. Die Mutter schrieb bald darauf eine Postkarte an das „liebe Heinzchen“. „Sei herzlich geküsst von Deiner lieben Mutter“, ist darauf zu lesen. Weiter unten erkundigte sie sich nach dem Zustand ihres Sohnes.
Die Gedenkstättenleiterin Carola Rudnick, Jahrgang 1976, führt durch die Ausstellung. Zu jeder Schublade, zu jedem Bild und zu jedem Objekt erzählt sie eine Geschichte, atemlos schnell, engagiert bis in die Haarspitzen. Über Jahre, so berichtet sie, habe sie die ursprüngliche Schau begleitet und schließlich vom Kopf auf die Füße gestellt. Früher waren dort nicht nur die Opfer, sondern selbst die Täter anonymisiert. Bloß keinem auf die Füße treten. Nur nicht die Gefühle von Verwandten verletzen, die sich möglicherweise ihrer Vorfahren wegen genierten. Rudnick hat das geändert. „Sollen sie mich doch verklagen“, habe sie damals gedacht, sagt sie. Es kam keine einzige Klage.
Der ärztliche Direktor Max Bräuner antwortete der Mutter von Heinz am 13. November 1941. Da war von einer Gesundung nicht mehr die Rede. Das Kind sei unsauber, schrieb Bräuner, zugleich Kreisbeauftragter für das „Rassenpolitische Amt“ der NSDAP Lüneburg. Die Mutter reagierte empört. Am 2. Dezember antwortete Bräuner, dass eine Heilung häufig nicht möglich sei.
Die Ausstellung ist barrierefrei. Das heißt nun nicht nur, dass es am Eingang keine Stufen gibt. Jede und jeder soll sich zurechtfinden, ob blind oder sehend, im Rollstuhl oder stehend, hörend oder gehörlos. Deshalb kann man die Geschichten dort wahlweise lesen, hören oder in Brailleschrift ertasten und auch in leichter Sprache kennenlernen. Dazu führen Hunderte NFC-Chips den Benutzer eines Smartphones zu weiteren Geschichten. Es wäre doch seltsam, wenn ausgerechnet Menschen mit Behinderungen diese Schau, in der es um genau sie geht, nicht verstehen könnten, sagt Rudnick.
Rudnick kennt sich nicht nur aus beruflichen Grünen mit dem Thema aus. Ihr 17-jähriger Sohn leidet an einer angeborenen seltenen Krankheit, sagt sie. Rudnick ist keine Frau, die zu leisen Tönen neigt, wenn es um die Rechte von behinderten Menschen geht. Sie erzählt, dass sich manche Gäste im Eiscafé umsetzen, wenn sie mit ihrem Sohn dort auftaucht. Dass Autofahrer zu hupen beginnen, wenn der Krankentransporter ihn nach Hause bringt. Sie empört sich. Und dann lächelt sie, als sie berichtet, dass Passanten die lärmenden Autofahrer zur Rede gestellt hätten.
Die Krankenakte von Heinz Schäfer in der Lüneburger „Kinderfachabteilung“ stufte den Vierjährigen am 20. Januar 1942 als „tiefstehend“ und „bildungsunfähig“ ein. Einen Monat später hieß es, es seine „keine Weiterentwicklung eingetreten“. Der Junge kam somit für die Tötung in Frage. Aus ärztlicher Sicht, versteht sich.
Wer waren die Verwandten von Jungen und Mädchen wie Heinz Schäfer, wollte Rudnick wissen. Die Historikerin hat nach Nachfahren gesucht und Hunderte von ihnen gefunden. Zur Eröffnung der Ausstellung reisten über 50 an. Mithilfe dieser Angehörigen ist es gelungen, aus bisher unbekannten Opfern Menschen zu machen: Kinder, die lachten und weinten, Spaß hatten und sich ängstigten. Nur noch in seltenen Fällen würden sich Angehörige ihrer behinderten Verwandtschaft schämen, sagt Rudnick.
Und so erzählt Uta Wehde an einem Nachmittag in ihrer Küche in Berlin über ihren Onkel Fritz. Kennenlernen konnte sie ihn nicht, denn Fritz ist schon im Januar 1945 als Fünfjähriger in Lüneburg getötet worden, mutmaßlich aufgrund von Mangelernährung. Wehde erinnert sich daran, dass ihre Großmutter Wilma ihr einmal ein Bild des Jungen gezeigt habe, als sie selbst vielleicht vier Jahre alt gewesen ist. „Den haben sie umgebracht“, habe die Oma gesagt. Der Mord war kein Geheimnis. Im Kreis der sozialdemokratisch orientierten Familie wusste man Bescheid.
Fritz war geistig eingeschränkt, weil er während seiner Geburt zu wenig Sauerstoff bekommen hatte. Sein Bruder Heinrich erinnerte sich, dass er den Älteren, der sich nur schwer ausdrücken konnte, immer beschützen wollte. Doch gegen ein Mordprogramm hat die familiäre Liebe nicht helfen können.
Uta Wehde hat Angehörige ihrer Familie gefragt. Mehr über das Schicksal von Fritz herauszufinden, sei für sie „gar keine Frage gewesen“. „Das ist mir total wichtig“, sagt sie. Deshalb saß sie auch in einem aus Angehörigen von Opfern und Menschen mit Behinderungen gebildeten Beirat, der mit über die neue Ausstellung in Lüneburg entschieden hat. Das Foto von Fritz, das einst Oma Wilma gehört hat, ist jetzt in der Ausstellung zu sehen. Vor ein paar Monaten hat Wehde dafür gesorgt, dass vor dem Haus in Garbsen bei Hannover, in dem Fritz aufwuchs, ein Stolperstein für den Jungen verlegt worden ist. Das ganz Dorf sei gekommen, erinnert sich Wehde.
Der Mord an Heinz Schäfer geschah am 23. Februar 1942. Am Vortag hatte die Mutter noch die Mitteilung erhalten, dass ihr Sohn erkrankt sei. Am nächsten Tag war der Junge tot. Heinz Schäfer starb durch ein Barbiturat, einem starken Beruhigungsmittel. Seine Mörder kamen ohne Strafen davon.
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