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Evakuierungen aus der OstukraineMit verängstigten Katzen und Papageien im Gepäck

Auf internationaler Bühne wird über die Ukraine verhandelt. Doch die Menschen im Donbass wissen, dass ihr Schicksal sich eher in Pokrowsk entscheidet.

Die Familie des 43-jährigen Oleksij bereitet sich auf die Evakuierung aus dem Dorf Sorjane vor Foto: Oleksii Filippov

Sorjane taz | Es regnet, ein grauer Himmel hängt über Feldern mit reifen Sonnenblumen. Solch ein Wetter wird normalerweise als unangenehm empfunden, nicht aber so im Donbass. Je mehr Wolken am Himmel, desto weniger russische Drohnen. Schlechtes Wetter für Drohnen ist gutes Wetter für die Menschen.

In diesem Sommer wurde es auf den ukrainischen Straßen gefährlich: Drohnen fliegen auf Städte und Autobahnen, die im Frühjahr noch als abgelegene Gebiete galten. Die Autobahn Kramatorsk-Dobropillja ist für den zivilen Verkehr gesperrt. Die Umwege sind lang und in schlechtem Zustand. „Neue Karten alter Gebiete“, heißt es im ukrainischen Radio. Das melodische Lied wird von einem scharfen Signal unterbrochen – eine weitere ballistische Bedrohung für die östlichen Regionen kündigt sich an.

Entlang der Straßen sind Arbeiten in vollem Gange: Mitarbeiter der kommunalen Verwaltung mähen den Rasen und flicken den Asphalt, das Militär rammt Holzpfähle in den Boden und spannt Anti-Drohnen-Netze. Bushaltestellen, Fußgängerüberwege, der zivile Verkehr sowie die Ausrüstung der ukrainischen Streitkräfte gehören zu ihren Aufgaben.

Fast im gesamten Donbass sind Straßen mittlerweile mit Netzen überspannt, die vor Drohnen schützen sollen. Wie ein Bauernmädchen aus einem Märchen der Gebrüder Grimm – „weder angezogen noch ausgezogen“, weder vollständig besetzt noch völlig frei.

Krieg in der Ukraine

Mit dem Einmarsch im 24. Februar 2022 begann der groß angelegte russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Bereits im März 2014 erfolgte die Annexion der Krim, kurz darauf entbrannte der Konflikt in den ostukrainischen Gebieten.

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Zahl der Evakuierungen stark gestiegen

Und während es im Osten der Ukraine in den letzten Wochen mehrfach Versuche gab, die ukrainische Frontlinie zu durchbrechen, und Meldungen von russischer Seite, sie hätten den strategisch wichtigen Ort Dobropillja eingenommen, sprechen die Bewohner der Region Donezk fast gleichgültig über die große Politik. Ihre Gedanken sind auf die Front gerichtet, die sich ihren Häusern nähert. „Das Schicksal unserer Region entscheidet sich in der Nähe von Pokrowsk, nicht auf der Weltbühne“, sagt der Fahrer des Evakuierungsbusses Serhij. In diesen Tagen sitzt er ständig am Steuer.

Die Anzahl der Evakuierungen in der Ostukraine hat sich im letzten Monat um das 15-fache erhöht. Besonders betroffen sind die Regionen Donezk und Dnipropetrowsk, seit russische Truppen zehn Kilometer vorgerückt sind. Ein weißer Bus der Mission Proliska fährt die Dörfer an der Grenze der Regionen ab. Familien mit Kindern steigen ein, alte Menschen, verängstigte Katzen und sogar Papageien in Käfigen werden mitgenommen. Je härter ein Dorf getroffen wird, desto eher stimmen die Menschen einer Evakuierung zu.

In Sorjane in der Region Dnipropetrowsk wartet der 43-jährige Oleksij seit dem Morgengrauen mit seiner Frau und seinen vier Kindern auf einen Bus. Davor hatte er versucht, nicht in Tränen auszubrechen, und sich darauf konzentriert, sein ganzes Leben in Taschen zu packen. Hinein passen jedoch nur Sachen für die Kinder. Oleksij hilft seiner Frau und dem Baby in den Bus und verabschiedet sich von seiner Mutter. Sie bleibt im Dorf, um auf die Tiere aufzupassen.

Durch russischen Beschuss zerstörtes Wohngebäude im Zentrum von Kramatorsk Foto: Oleksii Filippov

Am Horizont sind Explosionen zu hören. Jetzt kann Oleksij seine Tränen nicht mehr zurückhalten. „Wir sind schon lange im Krieg, elf Jahre, aber zum ersten Mal ist er so nah an unserer Heimat“, sagt er, schließt die Türen des Kleinbusses und starrt aus dem Fenster, bis das Dorf um die Ecke verschwindet.

Ständig neue Evakuierungsanfragen

Nach dem dritten Dorf ist der Minibus überfüllt. Ständig erhalten die Freiwilligen neue Evakuierungsanfragen. Die letzte kommt aus dem Ort Meschowa, der derzeit angegriffen wird. Dort sind die Menschen nicht mehr telefonisch zu erreichen. Irgendwo dort versteckt sich eine Mutter mit einem elf Monate alten Kind auf dem Arm im Keller eines Hauses. Sie hat den Freiwilligen eine Sprachnachricht mit der Bitte geschickt, sie herauszuholen. Danach ist die Verbindung abgebrochen.

„Sie soll einen Eimer oder einen Lappen in der Nähe des Kellers aufhängen, damit wir sie finden können. Wenn nicht morgen, dann übermorgen, aber wir werden sie auf jeden Fall herausholen“, sagt Jewhen Kaplin, Leiter der humanitären Mission Proliska, zuversichtlich am Telefon.

Die Evakuierten werden in ein Logistikzentrum in der Region Dnipropetrowsk gebracht. Dort herrscht ständig Gedränge. Erwachsene stehen Schlange, um Hilfe zu bekommen. Kinder spielen auf dem sonnenverbrannten Gras zwischen den Zelten der Hilfsorganisationen.

Evakuierungskolonne unter Beschuss

Aus der Menge sind aufgeregte Rufe zu hören. Busse, die an diesem Tag bei der Evakuierung von Menschen aus Biloserske unter Beschuss geraten sind, treffen im Zentrum ein. Hundert Meter von der Evakuierungskolonne entfernt ist eine Lenkbombe eingeschlagen. Alle Passagiere sind in Sicherheit, aber sichtbar verängstigt. Sie steigen aus dem beschädigten Bus und schütteln Glas- und Granatsplitter aus ihren Taschen und Kleidern.

Eine blonde Frau, Tetjana aus Biloserske, überreicht dem Fahrer ein Metallstück, das an ihr vorbeigeflogen ist und das Busfenster zerbrochen hat: „Nur wenige Zentimeter von meinem Ohr entfernt. Ich habe nur ein Pfeifen gehört.“

Jetzt ist fast ganz Biloserske am Packen. Die Stadt hat kein Wasser mehr und wird mit russischen Präzisionsbomben und Drohnen beschossen. „Wir haben schon vergessen, wann wir das letzte Mal geschlafen haben. Die letzten sieben Tage haben wir im Keller gelebt. Glaub mir, es war mir egal, wohin ich gehen würde, solange ich bloß da herauskam“, sagt Tetjana und beginnt zu weinen. Vor einigen Tagen sind zwei ihrer Kollegen bei einem Angriff getötet worden. Sie hatten früher zusammen in einer Cafeteria gearbeitet. Und dann regneten russische Bomben auf die Stadt herab.

Bis zum Ende der Woche schaffen es die ukrainischen Streitkräfte, die Frontlinie bei Dobropillja zu stabilisieren. Freiwilligen gelingt die Evakuierung der Mutter mit ihrem Baby aus Meschowa. Führenden Politikern gelingt es aber nicht, ein Friedensabkommen zu unterzeichnen. Der Sommer wird kürzer, das Gebiet des Donbass kleiner. Vorerst entscheidet sich das Schicksal der dortigen Menschen in der Nähe von Pokrowsk und nicht auf der internationalen Bühne.

Aus dem Russischen Barbara Oertel

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