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Ex-Insassin über Haasenburg-Heim„Sie wollten uns neu programmieren“

Mona S. wurde von 2007 bis 2009 in einem Brandenburger Heim der privaten Haasenburg GmbH gequält. Ihr Aufenthalt lässt sie seitdem nicht mehr los.

Erst anklopfen, dann fragen, ob man eine Frage stellen darf: Regeln in der Haasenburg Foto: Patrick Pleul
Jan Kahlcke

Interview von

Jan Kahlcke

taz: Mona S., wie war das, als Sie mit 16 Jahren in ein Haasenburg-Heim in kamen?

Mona S.: Ich wusste nicht viel, hatte nur gehört, das sei eine Art Ferienlager mit viel Freizeit. Aber dann wurde ich von einer ganzen Horde Erzieher in Empfang genommen und sofort angebrüllt, ich sollte die Zigarette ausmachen. Ich habe das getan und wollte die Kippe meinem Vater geben. Da haben sie sich auf mich gestürzt und gesagt, ich hätte versucht, ihn anzugreifen. Sie haben mich im Polizeigriff abgeführt, die Arme auf den Rücken gedreht. Ich durfte mich nicht von meinen Eltern verabschieden. Zu ihnen haben sie gesagt: „Sie werden Ihre Tochter nicht wiedererkennen. Die wird nie mehr widerspenstig sein.“

taz: Wann haben Sie verstanden, wie das gemeint war?

Mona S.: Ziemlich schnell. Ich kam in Einzelisolation. Als der Tross mich zu meinem Zimmer brachte, musste ich anklopfen, obwohl da niemand drin war. Dann sollte ich fragen, ob ich reingehen darf. Als ich das tat, hieß es: Nein, erst musst du fragen, ob du eine Frage stellen darfst. Also noch mal von vorn: Anklopfen, fragen, ob ich eine Frage stellen darf, den Erzieher dabei immer mit Nachnamen ansprechen – und erst nach dieser Erlaubnis erneut fragen, ob ich eintreten darf.

taz: Und dann?

Mona S.: In dem Zimmer war nichts als eine graue Matratze mit allen möglichen Flecken drauf, ein Gartentisch und ein Gartenstuhl.

taz: Sie mussten auf der bloßen Matratze schlafen, ohne Bettzeug?

Mona S.: Ja, bei grellem Licht. Ich hatte nichts, womit ich die Augen bedecken konnte gegen das Licht.

Im Interview: Mona S.

34, war von 16 bis 18 im Haasenburg-Heim im brandenburgischen Jessern. Dann wurde sie mit der Begründung, sie sei für das Heim „nicht mehr tragbar“, in die Psychiatrie abgeschoben. Sie hat das mit Genugtuung aufgenommen – und als Befreiung empfunden.

taz: Und wann haben Sie Bettzeug bekommen?

Mona S.: Das hat bestimmt zwei Wochen gedauert. Ich musste mir ja alles einzeln verdienen: das Kissen, einen Bezug, eine Bettdecke, einen Bettbezug und ein Spannbettlaken. Jedes Teil kostete einen Tages-Chip. Das war so eine Art Währung in der Haasenburg. Einen Tages-Chip konnte man sich verdienen, indem man sich über den Tag an die sogenannten Verhaltenspunkte hielt. Das waren individuell verhängte Anforderungen wie etwa: „Ich höre auf die Erzieher und widerspreche nicht.“.

Viele sind im Knast oder in der Psychiatrie. Viele nehmen Drogen. Einige sind tot

taz: Im Sammelband „Jenseits des Kindeswohls“ schildern Sie auch brutale körperliche Übergriffe durch das Haasenburg-Personal. Waren die schlimmer oder die alltägliche totale Kontrolle?

Mona S.: Das ist schwer zu trennen, das gehörte beides zu einem System.

taz: Klingt wie aus einem dystopischen Roman.

Mona S.: Ja, sie wollten praktisch unsere Festplatte löschen und uns neu programmieren. Aber das hat nicht funktioniert. Bei unserem zweiten Ausbruchsversuch ist meine Zimmernachbarin Lisa vom Dach abgestürzt und ums Leben gekommen. Danach habe ich mich angepasst, um weniger Stress zu haben. Aber nichts von dem, was ich in der Haasenburg gelernt habe, hat mir später im Leben irgendwas genützt. Gar nichts!

taz: Ist das eine Geschichte, die Sie nicht mehr loslässt?

Mona S.: Ja, klar. Ich spreche und schreibe viel darüber. Das ist auch eine Art Therapie für mich. Ich habe viel Kontakt mit ehemaligen Insassen. Und ich kenne niemanden, der das halbwegs unbeschadet überstanden hätte. Viele sind im Knast oder in der Psychiatrie. Viele nehmen Drogen. Einige sind tot.

taz: Und wie geht es Ihnen heute?

Mona S.: Ich bin aus der Prostitution ausgestiegen und bekomme Ersatzdrogen. Seit drei Jahren mache ich zum Glück eine Traumatherapie. Es ist nicht alles gut, aber ich arbeite daran.

taz Salon „Hinter den Mauern der Haasenburg“. Vorstellung des Buches „Jenseits des Kindeswohls – Junge Menschen aus den Haasenburg-Heimen erzählen“ mit den Au­to­r:in­nen Kaija Kutter und Michael Lindenberg sowie den früheren Haasenburg-Insassinnen Emily A. und Mona S.Montag, 3. November, 19.30 Uhr, Kulturhaus 73, Schulterblatt 73, Hamburg

mit den früheren In­sas­s:in­nen Michelle L. und Dominik G. Montag, 2. Dezember, 19 Uhr, taz Kantine, Friedrichstraße 21, 10969 Berlin

Eintritt frei, Anmeldung unter taz.de/salon

taz: Was fordern Sie von den damals beteiligten Behörden?

Mona S.: Dass unser Leid anerkannt wird. Dass uns zugehört wird. Was wir zu sagen hatten, hat nie eine Rolle gespielt. Die Haasenburg-Geschichte muss aufgearbeitet werden. Und wir müssen eine Entschädigung bekommen, wie die Opfer der DDR-Jugendwerkhöfe. Da haben ja ganz ähnliche Verhältnisse geherrscht. Viele von uns haben schwere Schäden davongetragen. Das kann man mit Geld nicht ungeschehen machen. Aber Geld kann helfen, die Folgen zu lindern. Ich zum Beispiel bezahle meine Therapie selbst, weil die Kasse sie nicht übernimmt.

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