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Familien in SyrienFrische Pistazien und neue Verwandte

Seit der syrischen Revolution hat unsere Autorin ihre Mutter nicht gesehen. Ihre Kinder kennen sie nur aus Erzählungen. Nun werden sie sich treffen.

Frische Pistazien kurz vor der Ernte Foto: Sawsan Hussein Qaddour

A ls Bashar Al-Assad gestürzt wurde, war dies für mich und meine Familie nicht nur die Nachricht vom Ende des Krieges. Es bedeutete, dass wir nach sechs Jahren im Flüchtlingslager im Nordwesten Syriens in unser Haus in Al-Huwayz in der Al-Ghab-Ebene zurückkehren würden. Es bedeutete auch, dass vier meiner fünf Kinder ihre Onkel und Tanten kennenlernen würden, die sie zuvor nur von Geschichten, gelegentlichen Telefongesprächen und Fotos kannten. Endlich würden sie auch ihre Oma, meine Mutter, treffen. Ihre anderen Großeltern waren während des Krieges gestorben.

Meine Mutter lebt in der Kleinstadt Morek in der Provinz Hama. Seit Beginn der syrischen Revolution 2011 hatte ich sie und viele meiner Geschwister nicht gesehen. Morek stand unter der Kontrolle von Assads Truppen, die Reise dorthin war zu gefährlich. Die Stadt ist Syriens größter Pistazienproduzent. Kilometerweit wachsen dort die sogenannten Aleppo-Pistazien auf Feldern. Ihre Zahl wird auf rund 850.000 Bäume geschätzt. Erfreulicherweise würde unser erstes Familientreffen nach 14 Jahren auf die Erntezeit der Schalenfrüchte fallen. Zum ersten Mal in ihrem Leben würden meine Kinder Pistazien direkt vom Baum essen können. Die rötlich gefärbten Früchte hingen dann in traubenartigen Rispen an den Zweigen der Bäume. Erntefrisch schmeckten sie leicht süßlich.

Mit den Kinder in den Pistazienfeldern – welch ein Glück! Foto: Sawsan Hussein Qaddour

Sidra, meine älteste Tochter, war drei Jahre alt als die syrische Revolution begann, jetzt packte sie die Koffer für die Familie. „Ich kann nicht glauben, dass die Reise wirklich stattfindet“, sagte sie. Mein jüngstes Kind Saif al-Din sprang zwischen den Reisetaschen hin und her. Der Sechsjährige stellte viele Fragen wie: „Wie viele Zimmer hat Omas Haus?“, „Was soll ich Oma schenken?“.

Bild: Privat

Sawsan Hussein Qaddour ist eine freiberufliche Autorin und Redakteurin aus der ländlichen Region Hama in Zentralsyrien. Sie begann ihre journalistische Karriere 2013 und konzentriert sich in ihren Artikeln auf soziale, wirtschaftliche und politische Themen, wobei ihr besonderes journalistisches Interesse vulnerablen Gruppen sowie Klimafragen und deren Auswirkungen auf Ökosysteme gilt. Derzeit lebt Qaddour mit ihrer Familie in einem Flüchtlingslager im Nordwesten Syriens. Sie ist eine von elf Teilnehmerinnen des Projekts „Her turn – Supporting Syrian female journalists“, das von der taz Panter Stiftung initiiert wurde.

Aufmerksam lauschte ich den Gesprächen meiner Kinder. Die Fragen sprudelten nur so aus ihnen heraus, während sie angestrengt versuchten, sich die Namen ihrer Verwandten zu merken. Fast so, als würden sie sich auf eine Prüfung vorbereiten, in der es keinen Raum für Fehler gab. Sie kannten weder die Bedeutung von „Heimat“ noch die Gesichter ihrer Onkel und Tanten.

Die Unterhaltungen meiner Kinder offenbarten eine tiefe Lücke in ihrer Familiengeschichte, die durch die Vertreibung und das Leben im Flüchtlingslager entstanden war. Es war eine Suche nach Wurzeln, nach einem Ort der Zugehörigkeit außerhalb der Grenzen des Lagers, in dem sie aufgewachsen waren. Denn wie so viele syrische Kinder verbrachten auch sie den Großteil ihrer Kindheit in einem Flüchtlingslager. Laut UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) lebten 2024 mehr als 3,4 Millionen Vertriebene im Nordwesten Syriens. Darüber hinaus waren 1,95 Millionen Flüchtlinge in über 1.500 Lagern in den Provinzen Idlib und Aleppo untergebracht. Schätzungen gehen davon aus, dass 1,4 bis 1,5 Millionen dieser Vertriebenen Kinder waren.

Als wir einige Tage später mit dem Auto nach Morek fuhren, tauchten rechts und links die weiten Pistazienfelder auf, die eine Fläche von etwa 5.300 Hektar bedecken. Meine Kinder klatschten zur Musik im Radio, lachten, flüsterten. Hin und wieder rief eines von ihnen: „Schau mal, so viele Bäume!“. Dann ein anderes: „Wird Oma uns wiedererkennen?“ Oder: „Werden wir unsere Cousins mögen?“

Als unser Auto wenig später vor dem Haus meiner Mutter hielt, wo sie mit meinen Geschwistern und ihren Familien längst auf uns wartete, hörten wir schon von weitem die Rufe zur Begrüßung, gefolgt von lautem Lachen und vielen Tränen. Ein Wiedersehen nach 14 Jahren. Während meine Töchter neugierig die Gesichter ihrer Verwandten betrachteten und ihnen etwas schüchtern die Hand zur Begrüßung gaben, rannte mein kleiner Sohn zu seiner Oma, ergriff ihre Hand und umarmte sie so fest, als hätte er einen Schatz gefunden, den er nicht wieder verlieren wollte. Sie drückte ihn an ihre Brust und weinte.

Die Kleinstadt Morek in der Provinz Hama im Norden Syriens Foto: Badi Klif/reuters

Später fuhren wir mit den Kindern und einigen Cousins zu einem der nahe gelegenen Pistazienfelder. Zum ersten Mal pflückten meine Kinder frische Pistazien von den Bäumen, so wie ich es in meiner Kindheit all die Sommer getan hatte. Sie liefen zwischen den Bäumen umher, atmeten den Duft der trockenen roten Erde und lauschten dem Rascheln der Blätter vom Wind – gerade so, als würden sie hier und jetzt, nach Jahren, neue Wurzeln schlagen.

Ich beobachtete meine Kinder und war glücklich und besorgt zugleich. Ich fragte mich: Würden diese Momente die tiefe Lücke, die der Krieg hinterlassen hatte, wieder füllen können?

Trümmer und Träume

Mit dieser Kolumne endet die Reihe „Trümmer und Träume„, in der Journalistinnen von Damaskus bis Qamishli von ihrem Alltag in Syrien während des politischen Übergangs nach Assad berichtet haben. Die Autorinnen waren Teilnehmerinnen des mehrmonatigen Projekts „Her turn – Supporting Syrian female journalists“, das von der taz Panter Stiftung initiiert wurde. Weitere Texte und Projekte zur Förderung der Presse- und Meinungsfreiheit in Syrien folgen. (jv)

Illustration: Hamed Eshrat

Die Vergangenheit würde dieser Besuch wahrscheinlich nicht zurückbringen können, jedoch erhielten meine Kinder endlich die Möglichkeit, sich auf greifbare Weise mit ihrer Familiengeschichte zu verbinden. So wie die Pistazienbäume, waren auch wir hier verwurzelt und warteten auf den Tag, an dem wir zurückkehren würden.

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