Fantasyroman „Nördlich der Mondberge“: „Mama lässt mich verbluten“

Lulu rettet sich vor ihren Eltern in die Fantasie: In I. J. Kays Buch wird sie zur Kriegerin, ihr Butterfly-Kick ist tödlich, ihr Humor voller Ironie.

Eine Person sitzt in einer Schaukel vor dem Mond

Manchmal ist eine imaginäre Reise zum Mond besser als die Realität. Foto: ap

Es ist eine Art Neuanfang für Louise, nach zehn Jahren im Gefängnis richtet sie sich in einer schäbigen Wohnung ein, es ist eiskalt, es gibt selten Strom, das Wort „Fotze“, mit dem ein früherer Bewohner die Wand beschmiert hat, schimmert noch nach fünf Anstrichen durch. Aber Louise – oder Lulu, Catherine, Kim, sie hat viele Namen getragen –, Anfang 30, ist stark, hat bis hierher überlebt. „Mama sagt, sie bringt mich nicht wieder ins Krankenhaus, nächstes Mal kann ich verbluten.“

So wurde Lulu, dem kleinen Mädchen, einer Masai-Kriegerin, die rote Tischdecke über die Brust geknotet, den Speer aus Alufolie immer dabei, wenn sie in großen Sprüngen, einer Antilope gleich, ihre afrikanische Steppe durcheilte, Brachland zwischen Londoner Autobahnauffahrten, auf jede Gefahr vorbereitet, den kleinen Bruder auf den Rücken gebunden.

Mit Louise/Lulu hat I. J. Kay eine der eigenwilligsten und berührendsten literarischen Frauenfiguren der letzten Jahre geschaffen. „Nördlich der Mondberge“ ist das Debüt der britischen Autorin, von der man nicht mehr weiß, als dass sie 1961 in Suffolk geboren wurde, in Bristol und Gambia lebt und gerne mit einem Boot die Wasserstraßen Englands bereist. Und die drei im Alphabet aufeinander folgenden Buchstaben sind ein Pseudonym, da lässt sie sich ebenso wenig fassen wie ihre Protagonistin.

Die britische Presse feierte den Roman, der so ausufernd und fantasievoll erzählt; sich scheinbar jeder Chronologie verweigert und die Aufmerksamkeit der Lesenden einfordert, um den abrupten Flashbacks, assoziativen Erinnerungsspuren der Ich-Erzählerin Louise, zu folgen, getreu deren Überzeugung: „Geschichten drehn sich immer im Kreis, es gibt keine Stelle zum Anfangen und Aufhören.“ Doch das Erzählgerüst ist fein ausgetüftelt, die verschiedenen Zeitebenen fügen sich zueinander, und so entfaltet sich Louises Geschichte, ihr zu folgen ist jede Mühe wert.

I. J. Kay: „Nördlich der Mondberge“. A. d. Engl. v. Steffen Jacobs. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015, 460 S., 22,90 Euro

„… ich steh an der Felskante und hab keine Angst, keine Angst. Für den schlimmsten Teil hab ich ’n Seil, dann schlittre ich runter und runter, immer weiter. Wenn’s mal angefangen hat mit dem Trommeln, hört es gar nicht mehr auf. Wie: Afrika, hier komm ich.“ Wenn die Trommeln schlagen, wird Lulu zur Kriegerin, ein Afrikabuch des Opas eröffnete ihr diese Fluchtmöglichkeit vor einer gleichgültigen und narzisstischen Mutter und einem prügelnden Stiefvater.

Ein roter Faden

Die Rückblenden in die Kindheit nehmen zunächst den größten Raum ein, und sie haben eine eigene Sprache: Lulu, die von der Mutter nicht zur Schule gelassen wird, biegt sich die Sprache zurecht wie sie kann, ist beispielsweise „übergerascht“, aus Mascara wird „Massaker“; die Erwachsene wird einen eigenwilligen Sprachgebrauch als eine Art Selbstbehauptung beibehalten.

Dann schieben sich Erinnerungen an die etwa 20-Jährige dazwischen: Da trifft Louise Gwen, die „walisische Schlampe“; Pete, ihren Geliebten, „eine menschliche Eiche“, beide hängen mit jenem Ereignis zusammen, für das Louise ins Gefängnis ging.

Kay mäandert zwischen den verschiedenen Zeitebenen, einzelne Sätze springen heraus, verweisen auf etwas, was noch unausgesprochen bleibt: „Es geht um den Geschmack des Fliegenpilzes, den Klang des Schreis, den der Pilz ausstößt, als ich ihn pflücke.“ Der Fliegenpilz ist konkret und wird zugleich zum Signalbild für jenen Zusammenhang von sexuellem Missbrauch und dem Mord an einem Nachbarmädchen durch den „Sandwichman“, der nun auch Lulu verfolgt, das „Angstspiel“ eröffnet. Ein roter Faden im filigran gesponnenen Erzählnetz Kays, zentral für das Verständnis der tiefen Verstörung Lulus/Louises und für ihre Ambivalenz.

So tough ist sie, ihr Butterfly-Kick ist tödlich; so klug und von ironischem Humor. Und so zart und voller Angst vor dem Leben. Durch das man sie gehen sieht, auch straucheln, groß gewachsen, androgyn, mit leuchtend weißen Narben auf den Wangen, die sich die Kriegerin beigebracht hat, und nach deren Herkunft sie niemand zu fragen traut. So vieles geschieht in diesem Roman. Eine Einladung ist er, sich auf schauderhafte und magische Szenen und Bilder einzulassen. Louise wird nach Afrika reisen, zu den „Mondbergen“, die schon das kleine Mädchen faszinierten.

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