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Fazit zum PR-Getöse bei der EMHochfliegende Erzählungen

Während der EM konnte man glauben, der Frauenfußball platze aus allen Nähten. Warum nur die maßlose Marktschreierei? Der Sache dient sie nicht.

Wieder ein EM-Rekord: Beim Vorrundenspiel Deutschland – Dänemark wird höchste Zuschauerzahl ohne Gastgeberbeteiligung gefeiert Foto: Sebastian Christoph Gollnow/dpa

E in wenig sehne ich mich schon nach Stille. Mir dröhnen die Ohren von dem gut dreiwöchigen PR-Geschrei rund um diese EM. Die UEFA-Direktorin Nadine Keßler schwärmte und lärmte vor dem Halbfinale: „Die Leute schlagen sich um Tickets, versuchen, irgendwie noch irgendwo ins Stadion reinzukommen.“

Wilde Szenen spielten sich in meinem Kopf ab. Wo blieb denn nur ihr Dank an die Schweizer Polizei, Sicherheitskräfte und Armee, welche diese prekäre Lage offenkundig gut in den Griff bekommen haben?

An einem anderen Tag prophezeite Keßler „eine Explosion“ auf dem Transfermarkt des Frauenfußballs. Die Marke von 100 Millio­nen Euro Ablöse könnte durchbrochen werden, mutmaßte sie im Wissen, dass es bislang zwei Spielerinnentransfers gab, welche knapp über einer Million Euro lagen. Unfassbar und unglaublich. Diese beiden Wörter sind inflationär rund um diese EM in den Mund genommen worden.

Das Fazit von Kapitänin Giulia Gwinn zum eigentlich spielerisch sehr mäßigen DFB-Auftritt bei dem Turnier hätte auch kaum euphorischer mit Blick auf die Zukunft ausfallen können. „Wir haben eine unfassbar gute Grundlage gelegt.“ Die Gastgeber berauschten sich selbst an ihrer Liebe zum Frauenfußball, sozusagen an einer Zeitenwende.

Hilfsbedürftiges Etwas?

Bewirken diese maßlosen Übertreibungen nicht das Gegenteil von dem, was sie bezwecken sollen? Verweisen die hochfliegenden Erzählungen nicht gerade darauf, dass hier etwas massiv unterstützt und hochgepäppelt werden soll? Diese Art von PR gibt es seit geraumer Zeit beim Fußball der Frauen. Sie wirkt mittlerweile aber besonders bizarr, weil der Qualitätszuwachs auf dem Rasen zuletzt so rasant geworden ist. All das Wohlmeinende und maßlos Marktschreierische markiert den Fußball der Frauen eher als hilfsbedürftiges Etwas.

Es wird gesehen, was man sehen möchte und was zur eigenen Erzählung passt. Die zuletzt abnehmenden Zuschauerzahlen in der ersten Liga des EM-Finalisten England, sowohl in den Stadien als auch vor dem Fernseher, passen etwa eher nicht. Über ältere Männer, die wie immer dieses Turnier zahlreich begleiteten und auch beim ersten Spiel der Deutschen in St. Gallen einige Betten im Youth Hostel gebucht hatten, wurde eher nicht berichtet. Dass nach wie vor mehr Männer in den EM-Stadien waren als Frauen, auch das ging eher unter.

Wer genauer hinschaut, erhält vielschichtigere Bilder. Der Fußball der Frauen platzt wahrlich nicht aus allen Nähten. In der taz, die mit zwei EM-Seiten täglich ein breit getragenes Bekenntnis zu mehr Partizipation im Sport ablegte, ist die Begeisterung, so viel Transparenz muss sein, ebenso ausbaufähig. Bei der Männer-EM 2024 war die Beteiligung am Tippspiel im Haus mehr als doppelt so hoch. Wer während der Frauen-WM 2023 in Australien/Neuseeland im Gebäude nach einem leeren Raum suchte, wurde am ehesten im Trakt des taz-Cafés fündig, wo alle Spiele gezeigt wurden. Es ist so etwas wie eine Kopfliebe. Viele Gründe sprechen für den Fußball der Frauen. Das Herz braucht noch etwas Zeit. *Nur etwas Kleines

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taz-Sportredakteur
Jahrgang 1971, bis Ende März 2014 frei journalistisch tätig. Seither fest mit dem Leibesübungen-Ressort verbunden.
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