Fernab der Vollbeschäftigung: Eine Stadt auf sozialen Irrwegen

Bremen ist bekannt für seine vier Stadtmusikanten, leider auch für die erste Geige beim Thema Arbeitslosigkeit.

Wartezeiten vor dem Jobcenter? In Bremen keine Seltenheit Bild: dpa

von ANNIKA MARETZKI

Nirgends in Westdeutschland ist die Arbeitslosenzahl höher als in Bremen. Auch bei Minijobs und Leiharbeit ist die Hansestadt Spitzenreiter. In der Nähe des Bremer Hauptbahnhofs steht das Haus des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Hier war taz.meinland zu Besuch, um herauszufinden: Was ist die Lösung? Ist Bremen auf dem sozialen Irrweg? Was ist die Zukunft der Arbeit?

Ideen für die Stadt gibt es bereits: Die Stärkung öffentlich geförderter Beschäftigung und Umverteilung durch Arbeitszeitverkürzung stehen im Raum. Am Runden Tisch sitzen neben Moderator Jan Feddersen lokal Engagierte: Annette Düring, Sprecherin des DGB-Bremen, Margareta Steinrücke, von Attac und der AG ArbeitFairTeilen, Regine Geraedts, als Vertreterin der Arbeitnehmerkammer, Angelo Caragiuli vom Forum für Arbeit e.V. und Jörn Hermening, Ortsamtleiter Bremen-Hemelingen, ehemaliger Quartiersmanager.

Prekäres Leben in Bremen?

Zu Beginn war man sich einig: Bremen ist lebenswert und wunderschön. Wie in allen größeren Städten existierten „ähnliche soziale Problemlagen“ glaubt Regine Geraedts, „dazu zählt auch Langzeitasarbeitslosigkeit“. Dennoch dürfe man die Bremer Probleme mit Langzeitarbeitslosen, Minijobber*innen und Leiharbeiter*innen „nicht kleiner reden, als sie sind“, fand Margareta Steinrücke.

„Niemand wird in Tenever dümmer geboren, als in Oberneuland“

„50 Ablehnungen machen etwas mit Menschen“, pflichtete Jörn Hermening bei. Arbeitslose seien keine homogene Masse, unter ihnen befänden sich promovierte Historiker und Ungelernte, 16-Jährige Realschulabsolvent*innen und 58-Jährige kurz vor der Rente. Diese Vielfalt zwinge zur Abkehr vom derzeitigen „Schubladendenken“ bei arbeitspolitischen Maßnahmen.

Auch die zunehmende soziale Entmischung zwischen den Stadtvierteln macht Bremen zu schaffen. Viele Kinder in den benachteiligten Quartieren wachsen bereits in Abhängigkeitsverhältnis zum Jobcenter auf. Der frühere Bremer Quartiersmanager Jörn Hermening sieht daher den Staat in der Pflicht, auch in sozialen Wohnungsbau in „besseren Vierteln“ sowie in die Schulen der benachteiligten Quartiere zu investieren. „Niemand wird in Tenever dümmer geboren, als in Oberneuland.“

Strukturbruch und bildungspolitische Experimente

Doch was sind die Ursachen für die prekäre Arbeitssituation? Laut DGB-Sprecherin Annette Düring haben „Stahlkrise und andere Strukturbrüche hier maßlos eingeschlagen“. Bremen habe Arbeitsplätze für Geringqualifizierte verloren, aber die Menschen sind geblieben. „Man kann sie ja nicht wegschicken“, stellt Regine Geraedts von der Arbeitnehmerkammer fest.

Es folgten bildungspolitische Experimente wechselnder Bürgerschaften. Junge Erwachsene bekämen Abschlüsse, „die ihren Namen nicht Wert sind“, sagt Annette Düring. Viele würden zudem bereits vor dem Abschluss aufgeben „und das in einem Land, wo Abschlüsse für den Beruf absolut notwendig sind“. Die zahlreichen Ungelernten sind auch in Bremen ein Großteil des Problems, ihre Arbeitslosigkeit verfestigt sich mit jeder weiteren Absage.

Aber auch soziokulturelle Fragen spielen eine Rolle. „Ein Junge, der in unserem Betrieb seine Ausbildung anfing, wurde als einziger mit einem Ausbildungsplatz in seiner migrantischen Community nicht gefeiert. Er hat seine Ausbildung nach kurzer Zeit abgebrochen“, erzählt Angelo Caragiuli.

Öffentliche Beschäftigungsmaßnahmen als Allheilmittel

Was ist nun zu tun? Auf dem Podium herrscht Einigkeit: Der öffentliche Beschäftigungssektor müsse ausgeweitet werden, denn „Arbeit haben wir in Deutschland genug“, so Jörn Hermening. Bei öffentlichen Beschäftigungsmaßnahmen sei allerdings nicht an Ein-Euro-Jobs zu denken. Miete, Lebensunterhalt und Krankenversicherung sollten sich Arbeiter*innen in solchen Maßnahmen selbst erarbeiten können.

„Es ist Quark zu denken, dass alle in öffentliche Beschäftigungsmaßnahmen müssen“

Hermening geht weiter und fordert einen „dritten Arbeitsmarkt“. Erwerbslose sollen beispielsweise Stadtpflege und Seniorenarbeit übernehmen und dafür gerecht entlohnt werden. Er kritisiert, dass befristete Maßnahmen alle darauf abzielten, Arbeitslose in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren, „aber das ist nicht bei allen möglich.“

„Es ist Quark zu denken, dass alle in öffentliche Beschäftigungsmaßnahmen müssen“, stimmt Regine Geraedts von der Arbeitnehmerkammer zu. Für sie ist Qualifizierung weiterhin der Schlüssel. Aber Umschulungen verlangen dem Arbeitslosen einiges an Nerven, Mühen und Geld ab. Im Durchhalten müsse man die Erwerbslosen deshalb finanziell unterstützen.

Arbeitszeitverkürzungen als Trend der Zukunft

Margarete Steinrücke kritisiert die bisherigen Ansätze: „Wir haben hier in Bremen 500 Plätze in öffentlichen Beschäftigungsmaßnahmen bei 16.000 Langzeitarbeitslosen.“ Sie spricht sich für einen „New Deal“ in Europa aus, der, ebenso wie sein historisches US-Vorbild, öffentliche Beschäftigungsmaßnahmen mit Arbeitszeitverkürzung über alle Lohngruppen hinweg kombiniert. Hierdurch solle Arbeit bei vollem Lohnausgleich umverteilt werden. Bereits John Maynard Keynes, so Steinrücke, habe für das Jahr 2030 eine 15-Stunden-Woche vorhergesagt.

Auch Angelo Caragiuli vom Forum für Arbeit e.V. sieht in der Arbeitszeitverkürzung eine Chance für die Zukunft. „Streben nach technologischem Fortschritt passiert nicht um des Fortschritts Willen, sondern um mit weniger Arbeitseinsatz den gleichen Wohlstand zu erhalten“, sagt er. Seine Forderung also: gerechtere Umverteilung.

Immer da sein, wo es brennt. Im Vorfeld der taz.meinland-Veranstaltung in Bremen sprachen wir mit dem ehemaligen Quartiersmanager Jörn Hermening über seine Arbeit.

„Aber beschäftigt das die, die jetzt nicht beschäftigt sind?” fragt Jörn Hermening. Langzeitarbeitslosen sei aufgrund weiterhin fehlender Qualifikationen damit jedenfalls nicht geholfen. Dass der gegenwärtige Trend hin zu kleineren, etwa Teilzeit-Beschäftigungsverhältnissen bisher mit geringerem Verdienst einhergeht, hält er zudem für ein ungelöstes Problem.

„Immer wird über uns geredet und nicht mit uns”, beklagt sich ein Langzeitarbeitlose aus dem Publikum.

Ein Gast aus dem Publikum fragt ebenfalls frustriert von der bisherigen Diskussion: „Muss eigentlich jeder arbeiten?“ Die Vollbeschäftigungsgesellschaft sei nicht die Lösung und auch nie das wissenschaftliche Ideal gewesen, meint er. Vielmehr müsse man überlegen, wie Erwerbslose dauerhaft sozial und kulturell an der Gesellschaft teilhaben könnten.

Bedingungsloses Grundeinkommen

Dafür sei das bedingungslose Grundeinkommen, so Margarete Steinrücke, zwar „eine nachvollziehbare Idee“, würde aber „am Problem der fehlenden Anerkennung in unserer erwerbsorientierten Gesellschaft scheitern.“ Das Grundeinkommen sei nur in Kombination mit Arbeitsumverteilung sinnvoll.

Angelo Caragiuli merkt an: Junge Leute aus wohlhabenden Familien hätten bereits jetzt so etwas wie ein bedingungsloses Grundeinkommen. „Sie können sich leisten alles auszuprobieren“, aber sie brechen Studien und Ausbildungen trotzdem vermehrt ab.

Am Ende waren sich alle einig: Öffentliche Beschäftigungsmaßnahmen sind wünschenswert, Arbeitszeitverkürzungen unumgänglich und Qualifizierung ist in jedem Alter anzustreben.

Aber wie das alles politisch umsetzen? Bei der Schlussrunde geht der Blick gen Berlin. Margarete Steinrücke hofft auf eine Bremer Bundesratsinitiative zur Arbeitszeitverkürzung; Jörn Hermening fordert: „Der Bund muss bei der öffentlich finanzierten Beschäftigung Geld in die Hand nehmen“. Denn eigentlich, so sind sich alle einig, fehlt Bremen für die großen Investitionen eigentlich das Geld.