Festivaltipp für Berlin: Vom Sinnzwang befreit

Das Poesiefestival eröffnet am Freitag mit der „Nacht der Poesie“, bei der internationale Dichter*innen in ihrer Sprache aus ihren Werken vorlesen.

„I am an enemy/of change/as you know…“: Eileen Myles Foto: Eileen Myles

Was ist Poesie? Ist sie der klobige Vers über ein auf der Wiese herumstehendes Veilchen, den irgendein Schulbuch mal als relevant erklärt hat? Ist sie das erste Medium des Wissens oder ist sie alles, was sich der Sprachroutine entzieht – der peinliche Versprecher bei einem Vorstellungsgespräch, die Einkaufsliste, der slicke Werbebslogan, der ein Lächeln erzwingt, obwohl wir ja eigentlich nichts zu tun haben möchten mit den Sirenen des Kapitalismus?

Da dies alles 2019 Poesie sein kann, darf und muss, lässt sich diese Kunstform, deren Ursprung manche auf Homers „Odyssee“ datieren, vielleicht besser über das beschreiben, was sie nicht ist: flüchtig, einfach vermarktbar, logisch. Es ist ein schöner Kontrast, dass dieser introspektiven Ausdrucksform mit dem Poesiefestival eines jener Formate gewidmet wird, die in einer eventsüchtigen Gesellschaft sonst eher mit kollektiver Ekstase und schneller Massenbefriedigung verbunden werden.

Das vom Berliner Haus der Poesie organisierte Festival eröffnet auch in diesem Jahr mit der „Nacht der Poesie“, bei der internationale Dichter*innen wie Anja Golob, Keston Sutherland, Eileen Myles oder Marion Poschmann am Freitag in der Akademie der Künste in ihrer Landessprache aus ihren Werken vorlesen.

New York School

Besonders US-Dichter*in Eileen Myles, die sich als außerhalb der Binarität männlich/weiblich identifiziert, würde dem Beispiel mit der Einkaufsliste wohl gerne zustimmen – begann ihre Karriere doch im New York der 70er-Jahre, wo sie unter anderem die Beat-Legende Allen Ginsberg kennenlernte und zu einer Vertreterin der späten New York School wurde.

Jene lose Künstlergruppe, der neben Dichter*innen wie Alice Notley oder John Ashbery auch Maler*innen wie Jane Freilicher angehörten, stellte nicht nur das vermeintlich Alltägliche in den Mittelpunkt von Kunst, sondern wollte sie auch zugänglicher machen. Gedichte seien „freie Beute/für jedermann/für jedermann auf diesem nassen Strand“, heißt es in „Hotel Lautréamont“ von John Ashbery, der 2011 den Pulitzerpreis erhielt.

Myles hat bereits 20 Gedichtbände publiziert, aber derartige Ehren bislang nicht zugesprochen bekommen. Dass die „Kultfigur für die Post-Punk-Generation“ (New York Times) dennoch Legendenstatus genießt, liegt vor allem an ihrer bescheidenen wie radikalen Art als, wie Myles sagt, „wütende, weiße Lesbe, die die brennenden Straßen durchwandert“. In den Gedichten der leidenschaftlichen Twitter-Userin kommt diese Wut oft recht subtil daher:

Poesie ist ein Gekritzel auf unseren Hirnkarten, das unsere Beziehung zur Welt neu justiert

Unter dem Motto „Endlich Zeit für Sprache“ steht die 20-jährige Jubiläumsausgabe des vom Berliner Haus der Poesie organisierten Poesiefestivals in der Akademie der Künste, Hanseatenweg 10. Dabei werden die Arbeiten von 150 Künstler*innen aus 25 Ländern vom 14. bis 20. Juni vorgestellt. Erster Höhepunkt ist die „Nacht der Poesie“ am Freitag, 14. Juni, ab 20 Uhr, 13/8 € (inkl. Anthologie). Weitere Infos & Programm unter: www.haus-fuer-poesie.org

„I am an enemy/of change/as you know/All the things I/embrace as new/are in/fact old things/re-released: swimming/the sensation of/being dirty in body and mind/summer as atime to do/nothing and make/no money“, heißt es in „Peanut Butter“, das 1991 im Band „Not Me“ erschien.

Während Myles’ Werk vorwiegend mit lebensweltlich nachvollziehbaren Narrativen arbeitet, verharren die Gedichte von Keston Sutherland oft im Abstrakten. Als Vertreter der Cambridge School nimmt der Marx-Exeget nicht nur die Auswüchse des Spätkapitalismus, sondern auch sexuelles Begehren ins Visier. Seine Gedichte bringen das Subjekt gegen eine Welt in Stellung, die uns in jeder Sekunde regieren will: „was dieser, er hat dich gefickt, hügel getan hat, liebt dich. was dieses geplatzte zahnfleisch rückerstattet wird dich, fick dich, lieben, sehr.“

So beginnt sein von Katharina Schultens ins Deutsche übersetztes Gedicht „Brace“. Sutherlands Texte leben von ihrer semantischen Atemlosigkeit und den Brüchen in der Syntax, aber auch vom sympathisch überdrehten Stil, in dem sie vorgetragen werden. Als Kostprobe sei die Lesung des von der Kritik gefeierten Gedichts „Hot White Andy“ auf YouTube empfohlen.

Dösende, gefährliche Sprache

Myles’ lakonische und Sutherlands absurde Bühnenpräsenz sind ein Grund dafür, warum Räume wie das Poesiefestival so wichtig sind. Sie ­wecken die in Büchern dösende Sprache auf, verwandeln sie vom Abstrakten ins Konkrete, auch wenn sie weiterhin vom Sinnzwang befreit bleiben. Auch wenn sich Inhalt und Form bei ihnen unterschieden, zeigen Myles’ Texte, was Poesie kann: Sie ist ein ­Gekritzel auf unseren Hirnkarten, das unsere Beziehung zur Welt neu justiert.

Das Festival kümmert sich aber nicht nur um die Ästhetik, sondern auch um die Gefährlichkeit von Sprache. Sie werde heute oft für Hass missbraucht und „politisch usurpiert mit Wortfindungen, die ausgrenzend sind, bis in die Sprache der Parteien hinein“, erklärt Festivalleiter Thomas Wohlfahrt der taz.

Über den aktuellen Zustand der Sprache und ihren „Verfall“ debattiert etwa der Philosoph Giorgio Agamben, für den die Menschheit nur in der „unauflöslichen Bindung an das Wort“ existiert, am Sonntag um 11 Uhr in der Akademie der Künste. Neben ihm werden die türkische Dichterin Nilay Özer und der ungarische Dichter Márió Z. Nemes über „Sprachvergiftung und poetischen ­Widerstand“ diskutieren.

Dieser Text erscheint im taz Plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg immer Donnerstags in der Printausgabe der taz

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.