Fiktion und Realität in der Kunst: Wie viel ist zu viel?

Wie sehr darf sich ein fiktionales Werk am Realen bedienen? Im Nachgang der Debatte um „Cat Person“: Was diverse Schriftstel­le­r:in­nen sagen.

Portrait von Kristen Roupenian.

„Cat Person“-Autorin Kristen Roupenian Foto: Janerik Henriksson/picture alliance

Als Kristen Roupenian 2017 ihre Kurzgeschichte „Cat Person“ im New Yorker veröffentlicht, trifft sie den Zeitgeist. Die Geschichte handelt vom 34-jährigen Robert, einem netten Typen, der mit der deutlich jüngeren Studentin Margot eine Art Affäre via Textnachrichten beginnt – bis sie auf ein reales Date gehen, was misslingt.

„Cat Person“ war die Geschichte zur gerade aufkommenden #Metoo-Debatte, und die Story der damals noch unbekannten Autorin wurde zur ersten viralen Kurzgeschichte des Internet-Zeitalters. Es entstand eine Debatte über unausgesprochene Machtgefälle beim Dating und über Grauzonen der sexuellen Einvernehmlichkeit. Roupenian wurde zum Star, sie erhielt Buchverträge in Millionenhöhe.

Vier Jahre später ist nun erneut eine Debatte um die Kurzgeschichte entstanden. Doch dieses Mal geht es um die Frage, wie viel Reales in Fiktivem verarbeiten werden darf. Die US-amerikanische Publizistin Alexis Nowicki erkannte in Robert nicht einfach einen „netten Typen“, sondern ihren Exfreund. Auch die weibliche Hauptfigur Margot kam Nowicki bekannt vor. Vier Jahre lang hielt Nowicki die Parallelen zu ihrem Leben für einen seltsamen Zufall.

Bis ihr Ex-Freund plötzlich starb und sie erfuhr, dass er und Roupenian einander gekannt hatten. Es wurde klar: Roupenian hatte Nowickis Beziehung als Vorlage für ihre Erzählung benutzt. Inklusive sehr spezifischer Details. Genau wie Nowicki kommt Margot aus einer Kleinstadt, studiert Anglistik und jobbt in einem Arthouse-Kino. Die Figur Robert (groß, Tattoo an der Schulter, über 10 Jahre älter) sieht aus wie ihr Ex-Freund.

Intime Erinnerungen verwendet

In „Cat Person and Me“ erzählte Nowicki im Juli beim US-Online-Magazin Slate ihre Version der Geschichte. Sie kritisierte, dass ihre intimen Erinnerungen verwendet und abgewandelt wurden. So versuchte sie, wieder die Macht über die eigene Geschichte zu erlangen. Vor allem hat sich laut Nowicki eine Sache in der Realität ganz anders abgespielt als bei „Cat Person“: ihre Beziehung zu dem Ex-Freund. Die sei liebevoll gewesen, nicht unangenehm und semi-missbräuchlich wie in der Geschichte. Es ist also auch der Versuch, einen Verstorbenen gegen eine Figur zu verteidigen.

In einer E-Mail, die Nowicki in ihrem Essay abdruckt, entschuldigt sich Roupenian: „In der Retrospektive war es falsch, nicht diese biografischen Details herauszunehmen, besonders den Namen der Stadt. Das nicht zu tun, war nachlässig.“

Verbot des Romans „Esra“

Die aktuelle Debatte wirft eine Frage auf, die schon häufig geführt wurde: Darf ein Kunstwerk sich nach Belieben am Leben realer Menschen bedienen? Es gibt unzählige Beispiele aus der Literaturgeschichte, in denen sich Personen in den Figuren literarischer Werke wiederfanden und hintergangen fühlten. Den Juristen Johann Christian Kestner verewigte Goethe 1774 in „Die Leiden des jungen Werther“ – als Verlobten, der zwischen Werther und seiner Lotte steht. 2008 erstritt die Ex-Freundin von Maxim Biller gerichtlich das Verbot des Romans „Esra“, in dem sie als Hauptfigur vorkommt.

Man kann behaupten, dass es zur Literatur gehöre, im echten Leben Material zu sammeln und im Sinne der Story neu anzuordnen. Doch wie viel ist zu viel? Wir haben verschiedene Schrift­stel­le­r:in­nen danach gefragt, wie sie es mit der Inspiration bei realen Menschen halten, und gebeten, in einem kleinen „Behind the Scenes“ etwas über ihre persönlichen Grundsätze zu verraten.

Lisa Krusche

„Alles ist Material, denke ich, das Leben dem Schreiben ausgeliefert (und umgekehrt vielleicht genauso). Ich habe aber das Gefühl, aus meiner Position, also aus dem Prozess heraus gesprochen, dass der Realitätsraum und der literarische Sprachraum grundsätzlich verschiedene Dinge sind und dass jenes, was durch das Schreiben von Ersterem zu Zweiterem transformiert wird, zwar scheinbare Ähnlichkeiten haben mag, aber eben doch etwas ganz anderes ist.

Trotzdem oder gleichzeitig wäge ich auch ab, gerade bei essayistischen Texten, und ich entscheide mich manchmal ­zugunsten des Schutzes ein­zelner Personen gegen das, was zu schrei­ben wäre. ­Manchmal wiegen diese Tabus sehr schwer, man bleibt dann ­wieder im Schweigen zurück, und ich frage mich, ob ich umsichtig bin oder einfach nur feige.“

Lisa Krusche, geboren 1990, ist Schriftstellerin aus Braunschweig. 2020 wurde sie bei den 44. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt mit dem Deutschlandfunk-Preis ausgezeichnet. 2021 erschien ihr Debütroman „Unsere anarchistischen Herzen“

Timon Karl Kaleyta

„In meinem Roman tauchen als Figuren gleich zwei enge Freunde von mir mit ihrem tatsächlichen Namen auf. Ich habe sie nicht um Erlaubnis gefragt, einerseits, weil ich es eben zu Fiktion gemacht habe, andererseits, weil ich die beiden in dieser Fiktion zu genau den Menschen gemacht habe, die sie in der Realität selbst gern sein würden. Das hat sie sicherlich gefreut.

Ich glaube ja nicht, dass sich Dinge hinreichend gut einfach so ‚erfinden‘ lassen. Es gibt also zwei Möglichkeiten, an Stoffe und Figuren zu kommen: Entweder man nimmt sich sehr viel Zeit, recherchiert aufwändig zu einem Thema, führt Gespräche und gräbt sich richtig ein, oder man beklaut und beraubt schamlos sein Umfeld, seine Freunde, Familie, Bekannte und alles um einen herum. Es geht natürlich auch beides gleichzeitig.

Bislang hat eigentlich alles, was ich an fiktionalen Texten geschrieben habe, seinen Anfang in der Realität genommen. Ich habe bislang noch gar nicht versucht, einmal anders zu arbeiten. Ich denke, gutes Erzählen ist wie Lügen, und Lügen haben überhaupt nur einen Sinn, wenn sie noch in der Realität verankert sind. Ich habe zum Beispiel immer gern gelogen, ganz einfach weil doch das, was man anderen Leuten erzählen will, interessant klingen und nicht langweilen soll. Wenn ich also eine Figur für eine Geschichte hergenommen habe, dann gab es sie bislang immer irgendwie auch in der Realität, doch in der Sekunde, da ich über sie schreibe, wird alles sofort zu einer bloßen Behauptung.

Meiner Meinung nach ist tatsächlich alles erlaubt, jedenfalls, sofern man akzeptiert beziehungsweise fest daran glaubt, dass ‚die Kunst‘ ein eigenes System mit eigenen Gesetzen und eigener Logik ist. Es kann dann natürlich gute oder schlechte Kunst sein, und darüber darf sich dann gern auch jemand aufregen.“

Timon Karl Kaleyta, geboren 1980, ist Musiker, FAZ-Kolumnist, Drehbuchautor der Serie „Jerks“ und Schriftsteller. 2021 erschien sein Debütroman „Die Geschichte eines einfachen Mannes“

Iris Hanika

„Wer sich in einem literarischen Text wiedererkennt, fühlt sich immer missverstanden. Das ist so wie bei Fotos von sich selbst. Auf denen findet man sich in der Regel gar nicht schön, und wenn andere das Foto dann auch noch gelungen finden, dann ist das deprimierend.

Ich schreibe keine literarischen Texte über Leute, die ich kenne, darum kann ich das nur ableiten aus Zeitungsartikeln, die ich geschrieben habe. Einmal ging es da um eine Schule; ich war sehr beeindruckt von dem, was die Lehrer dort leisten, und meinte, dass ich das auch zum Ausdruck gebracht hätte. Als ich aber eine der porträtierten Lehrerinnen zufällig wiedertraf, sagte sie mir, sie und ihre Kollegen hätten überlegt, ob sie sich in einem Leserbrief beschweren sollen. Das hat mich sehr gewundert, verstanden habe ich’s aber erst, als die taz mal was über mich schrieb, was mich nicht erfreut hat.

Als Regel für Schriftsteller leite ich aus diesen Erfahrungen ab: Solange man nicht über Narzissten schreibt, die alles gut finden, was mit ihnen zu tun hat, kann man es nur falsch machen. Isabel Allende hat sich mit der Veröffentlichung von „Das Geisterhaus“ das Verhältnis zum Großteil ihrer Familie kaputtgemacht, zugleich hat das Buch sie reich und berühmt gemacht. Man muss abwägen.“

Iris Hanika, geboren 1962, ist Schriftstellerin aus Berlin. Für ihren fünften Roman, „Echos Kammern“, erhielt sie 2021 den Preis der Leipziger Buchmesse

Raphaela Edelbauer

„Prinzipiell ist meine Regel, dass ich nur Personen des öffentlichen Lebens abbilde. Das heißt, Personen, die in irgendeiner Weise für ein kollektives Geschehen stehen. Einzelpersonen möchte ich nicht in ihrer Individualität an den Pranger stellen. Insofern wäre es okay für mich, Jörg Haider zu verwenden, aber nicht die Kassiererin vom Billa Supermarkt. Die würde verflacht werden, wenn ich nur gewisse Eigenschaften nehme und sie als Figur behandle. Eine Figur ist immer etwas anderes als ein echter Mensch. Figuren stehen für etwas, Menschen nicht. Wenn ich jetzt zum Beispiel einen roten Pullover anhab, dann ist das keine Metapher für irgendetwas, dann ist das meine Entscheidung. Bei einer Figur ist das anders.“

Raphaela Edelbauer, geboren 1990, ist österreichische Autorin. Ihr Debüt „Das flüssige Land“ war 2019 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, ihr Roman „Dave“ gewann 2021 den Österreichischen Buchpreis

Hengameh Yaghoobifarah

„Nach meinem Debütroman haben mich mehrere Personen angesprochen, ob die Protagonistin durch sie inspiriert war. Ich musste lachen, weil keine von ihnen mir beim Schreiben in den Sinn gekommen war, ich die Identifikation aber gut nachvollziehen konnte. Das ist eines der größten Komplimente, die du als Autor_in bekommen kannst: dass deine Figuren so gut geschrieben sind, dass sie real erscheinen. Für mich ist klar: Die Geschichten meiner Freund_innen und Familienmitglieder schlachte ich nicht für meine Texte aus. Wenn ich doch mal konkrete Erlebnisse aufgreife, spreche ich mit den Personen vorher darüber oder lasse sie den Ausschnitt gegenlesen. Manchmal sind es aber auch Erfahrungen, die so oder so weit verbreitet sind, beispielsweise eine Migrationsgeschichte.

Ich finde die Frage danach, wie rigide die Grenzen innerhalb der Kunstfreiheit ausgelegt werden sollen, wirklich schwierig. Ich kenne Leute, die sich damit echt scheiße fühlen, in den Büchern anderer Leute (wenn auch ohne Namen) vorzukommen. Gleichzeitig verstehe ich den Gedanken von Autor_innen, eine textreife Beobachtung zu machen und sie unbedingt auf Papier bringen zu wollen. Wenn man mit der Person, um die es geht, in Kontakt steht, fände ich es angebracht, es mit ihr abzusprechen. Wenn es sich aber beispielsweise um Abuser handelt, mit denen man gar nicht mehr spricht, finde ich es okay, einfach sein Ding zu machen.“

Hengameh Yaghoobifarah, geboren 1991, ist taz-Kolumnist:in, Pod­cas­te­r:in und Re­dak­teu­r:in beim „Missy Magazine“. Yaghoobifarahs Debütroman heißt „Ministerium der Träume“

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