Film „Petite Maman“ von Céline Sciamma: Befreites Spielen im Zauberwald

Die französische Regisseurin Céline Sciamma hat mit „Petite Maman“ einen Zeitreisefilm gedreht. Sie leistet darin magische Trauerarbeit.

Nelly (Joséphine Sanz) sitzt auf einem Kinderbett, rötliches Licht auf der Wand über ihr.

Ist Nelly (Joséphine Sanz) wirklich allein im Haus ihrer Großmutter? Foto: Alamode

Was für mitreißende Heldinnen, eigensinnige Pionierinnen, berührende Utopistinnen! Die Figuren der französischen Regisseurin Céline Sciamma betreiben Geschichtsschreibung in eigener Sache. Zaghaft oder entschlossen, vorsichtig oder energisch suchen sie sich ihre Geschichte – und erkunden damit auch einen utopischen Raum: in einer Wohnburg am Stadtrand von Paris, in einer Hochhaussiedlung in der Provinz oder auf einer abgeschiedenen Insel vor der französischen Atlantikküste.

In dem Kostümfilm „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ (2019) folgen eine Malerin und ihr Modell ihren Gefühlen füreinander, ihrem Begehren, das im 18. Jahrhundert noch keine Vorbilder, keine Semantik und keine Codierung kennt. Vic, Lady, Adiatou und Fily aus der dokumentarischen Erzählung „Mädchenbande“ (2014) entwickeln als Gang eigene Posen, einen eigenen Ausdruck und machen sich mit wütenden Tanzchoreografien von der Banlieue auf ins Zentrum von Paris.

Laure aus dem Film „Tomboy“ (2011) nennt sich nach dem Umzug ihrer Familie Michael und trägt Jungsklamotten. Sie/Er erkundet die Umgebung und sich selbst, beim Fußballspielen, in der Clique, bei Mutproben. Und nun nimmt uns die kleine Heldin aus Sciammas neuem Film „Petite Maman – Als wir Kinder waren“ mit an einen Ort, den es eigentlich nicht geben kann, liegt er doch in der Vergangenheit.

„Petite Maman“ ist ein Zeitreisefilm, der seine verwunschenen Bilder aus der Ernsthaftigkeit von Kinderspielen entwickelt, bedingungslos die Perspektive seiner Protagonistin einnimmt, ihre Empfindungen teilt und mitteilt.

„Petite Maman – Als wir Kinder waren“. Regie: Céline Sciamma. Mit Joséphine Sanz, Gabrielle Sanz. Frankreich 2021, 72 Min.

Zum letzten Mal besucht die achtjährige Nelly das Altersheim ihrer Großmutter. Sie blickt auf das leere Bett, geht durch die stillen Gänge und verabschiedet sich von den anderen älteren Damen. Auch im Haus der Großmutter ist Stille eingekehrt, die Möbel sind fast alle ausgeräumt, die Gegenstände in Kartons verpackt. Nelly schläft im Kinderzimmer ihrer Mutter, gemeinsam schauen sie sich deren alte Schulhefte an. „Deine Rechtschreibung war nicht die beste“, sagt die im Bett liegende Kleine von oben zu ihrer auf dem Boden kauernden Mutter.

Nelly möchte die Welt erfahren

Beiläufig entsteht hier eine Rollenverschiebung. Eine trauernde Mutter wird zum Kind, während ihr Kind, das die Trauer auffangen will, erwachsen wirkt. Im Auto füttert Nelly ihre Mutter mit Erdnussflips. Sie selbst mümmelt sie wie ein Häschen in sich hinein, und man fragt sich, welche Gedanken ihr dabei durch den Kopf gehen mögen.

Schon Nellys Gang hat etwas Beherztes, Entschlossenes. Jedem ihrer Schritte meint man anzusehen, dass sie die Welt erfahren möchte. Wenn sie den Wald rund um das Haus der Großmutter durchforstet, übernimmt die Kamera ihre Entdeckungslust und Offenheit. Nellys Streifzüge sind auch Reisen in die Vergangenheit und eine Form der Selbstbehauptung, sucht sie doch die Spuren ihrer mittlerweile abgereisten Mutter. Etwa den Unterschlupf, den diese einst aus Ästen und Zweigen zwischen Bäumen errichtete.

Dort entdeckt Nelly ein anderes kleines Mädchen, das sich gerade eine Höhle baut. Es fordert Nelly auf, ihr beim Tragen eines schweren Astes zu helfen. Ohne viele Worte vertiefen sich beide in die gemeinsame Tätigkeit.

Ein fantastischer Abenteuerfilm

Trifft Nelly hier auf ihre Doppelgängerin? Jedenfalls sehen die beiden Mädchen fast identisch aus, gespielt werden sie von den Zwillingen Joséphine und Gabrielle Sanz. Als es heftig zu regnen beginnt, flüchten sie in das Haus der neuen Freundin, die schon wie eine Vertraute wirkt. Dort scheinen die bereits verpackten Gegenstände und die Einrichtung der Großmutter wieder an Ort und Stelle zu stehen.

Der Gehstock der Mutter des anderen Mädchens ist identisch mit dem von Nellys Großmutter. Auch die Toilette befindet sich im Haus an derselben Stelle. Für Nelly gibt es keinen Zweifel mehr: Bei der Spielkameradin handelt es sich um ihre achtjährige Mutter Marion.

„Petite Maman“ ist ein fantastischer Abenteuerfilm, eine magische Trauerarbeit und ein realistisches Kammerspiel unter Bäumen. Herbstlich sind die Farben der Blätter, das Dickicht ist noch dicht, die Pfade wirken verschlungen. Anders als in einem Märchen ist dieser Wald weder düster noch bedrohlich, eher ist er Schutz- und Spielraum, in dem Nelly und Marion die Verwandlung, die Verzauberung regelrecht suchen.

Sie spielen Detektiv und Mörder, teilen Ängste und Sorgen, erfahren eine tiefe Innigkeit, die ihnen Rückendeckung für das Leben jenseits des Waldes geben wird. Nur einmal, als die beiden einen Paddelausflug mit Schlauchboot unternehmen, wird in diesem Film Musik erklingen. Es ist ein selbst geschriebener Song von ­Céline ­Sciamma: „Der Traum, ein Kind mit Dir zu sein …“ Diesen Traum erfüllen sich Nelly und Marion, sie leben die Utopie einer eigentlich unmöglichen Begegnung.

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