Filmfest in Venedig: Die Widrigkeiten des Lebens

Elegant und absurd: der argentinische Wettbewerbsfilm „El ciudadano ilustre“. Überraschend: „Spira mirabilis“ aus Italien.

Mariano Cohn (rechts) und Gaston Duprat, die argentinischen Regisseure von ‚El Ciudadano Ilustre‘

Mariano Cohn (rechts) und Gaston Duprat, die argentinischen Regisseure von „El Ciudadano Ilustre“ Foto: ap

Wenn man aus den deckenhohen – und die Decke ist ziemlich hoch – Fenstern des Pressezentrums in Venedig blickt, schaut man aus nächster Nähe auf den Strand der Adria. Der Lido ist eine langgestreckte Badeinsel, und das Festivalgelände gibt es dort eben auch noch. Direkt am Wasser. Die Versuchung ist daher durchaus vorhanden, einfach mal in die Wellen zu steigen, wären da nicht die Filme, die alle noch gesehen werden wollen. Die Aussicht allein ist aber schon so gut wie halb gebadet.

Auf das Meer erst einmal zu verzichten, fällt vor allem dann nicht schwer, wenn das auf der Leinwand gebotene Programm für ausreichend Schaufreuden sorgt. So bei dem argentinischen Wettbewerbsfilm „El ciudadano ilustre“ (The Distinguished Citizen) von Mariano Cohn und Gastón Duprat. Ein Schriftsteller, der Nobelpreisträger Daniel Mantovani (Oscar Martínez), erhält eine Einladung in seine Geburtsstadt Salas. Die hat er Jahrzehnte nicht mehr gesehen, seit er, kaum 20-jährig, nach Europa geflohen ist.

In Salas soll ihm die Ehrenbürgermedaille verliehen werden. Obwohl er seit der Nobelpreisverleihung alle öffentliche Termine abgesagt hat, folgt er der Einladung des Orts, dem er sein Leben lang entkommen wollte. In seinen Romanen hat er die Heimat jedoch nie verlassen, vielmehr dienten ihm das Provinznest und seine Bewohner stets als Inspiration für seine Bücher.

Dass er wenig Gutes, dafür umso mehr Schlechtes über seine ehemaligen Nachbarn zu sagen hatte, gefällt nicht allen Einwohnern. Nach einem herzlichen Empfang mehren sich bald die Signale, dass der berühmte Sohn der Stadt mit seinem Besuch nicht nur freundliche Gefühle weckt. Cohn und Duprat lassen diese unmögliche Rückkehr dann nach und nach immer absurder eskalieren.

Die Filmfestspiele von Venedig finden alle Jahre von Ende August bis Anfang September auf dem Lido in Venedig statt, dieses Jahr zum 73ten Mal. Das Filmfestival umfasst die vier Kategorien „Wettbewerb“, „Außer Konkurrenz“, „Horizonte“ und „Venice Classics“.

Kunst als Protest gegen Widrigkeiten des Lebens

Das boshafte Beinahe-Drama profitiert von seiner ironischen Inszenierung und einem starken Hauptdarsteller, vor allem aber überzeugt „El ciudadano ilustre“ als Reflexion über die Frage, wie viel Freiheiten sich ein Schriftsteller mit den realen Vorbildern seiner Werke nehmen kann. Die Ambivalenz von Realität und Fiktion halten Cohn und Duprat bis zum Ende durch, überraschen elegant mit Doppelbödigkeit und liefern nebenbei ein Plädoyer für Kunst als legitimer Protest gegen die Widrigkeiten des Lebens.

Ein Plädoyer für die Unsterblichkeit liefern dafür die Filmemacher Massimo D’Anolfi und Martina Parenti in ihrem Dokumentarfilm „Spira mirabilis“, ebenfalls im Wettbewerb. In fragmentarischen Bildern nähern sie sich der Unsterblichkeit mit Hilfe der vier Elemente Erde, Feuer, Luft und Wasser.

Das boshafte Beinahe-Drama „El ciudadano ilustre“ profitiert von seiner ironischen Inszenierung und einem starken Hauptdarsteller

So sieht man einen Schweizer Hersteller von Steel Drums – (schwingende) Luft steht für die Unsterblichkeit der Kunst –, einen japanischen Meeresforscher, der eine unsterbliche Quallenart untersucht – Wasser steht für die Unsterblichkeit der Wissenschaft – oder eine Indianerbestattung – die Erde symbolisiert die Unsterblichkeit des Glaubens.

Als Ganzes genommen, stehen die Bilder, die durchaus schön anzusehen sind, etwas lose nebeneinander, wirken mitunter beliebig oder poetisch um ihrer selbst willen. Das kann schon mal selbstverliebt wirken. Wären da nicht noch ein paar Überraschungen. Am gelungensten der Auftritt des Meeresforschers im US-amerikanischen Fernsehen, wo er nicht nur über sein Spezialgebiet spricht, sondern auch singt – und zwar die A-cappella-Version eines Songs, in dem er die unsterbliche Medusa, eine winzig kleine Quallenart, leidenschaftlich besingt. Selbst im Mittelmeer könnte man auf sie treffen. Sofern man sie mit bloßem Auge erkennt.

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