Filmstart „Schnee von gestern“: Eine zerbröselte Familie

Nach dem Krieg geht die Schwester nach Israel, der Bruder bleibt in Deutschland. Yael Reuvenys neuer Film führt die Familie posthum zusammen.

Familie Schwarz aus Wilna, unten links die Geschwister Feiv'ke und Michla. Bild: Film Kino Text

„Oma ist nie eine offene Person gewesen“, sagt die Mutter zu ihrer Tochter Yael. „Man konnte sie nicht kennen.“ Und dann folgt ein Satz, der sich für die Dokumentation „Schnee von gestern“ von zentraler Bedeutung erweisen soll. „Und ich habe ihr nie viele Fragen gestellt.“

Die beiden Frauen stehen vor einem Grab in Israel. Hierhin ging die Großmutter nach Ende des Krieges, in dem sie ihre gesamte Familie in den Konzentrationslagern der Nazis verlor. Darunter auch ihren Bruder Feiv’ke. So lautet zumindest die offizielle Familiengeschichte.

Mit der Einreise nach Israel begann für Michla Schwarz ein neues Leben. Ihr altes konnte sie indes nicht abschütteln. „Sie hat im Holocaust gelitten“, erzählt Yaels Mutter. „Dann kam sie hierher und litt während der Gründung von Israel.“ Nach Deutschland kehrte Michla Schwarz nie wieder zurück. „Sie würde es nicht verstehen, wenn sie wüsste, dass du heute in Deutschland lebst“, muss sich Yael von ihrer Mutter anhören. Sie hat die Aversion gegen das Land der Täter von ihrer Mutter geerbt.

Die Filmemacherin Yael Reuveny kam vor fünf Jahren nach Berlin, weil sie es in ihrer Heimat nicht mehr ausgehalten hatte. Sie gehört zur sogenannten dritten Generation Israels, der Nation im eigenen Land: „Ich sollte den ’neuen Juden‘ repräsentieren.“ Stattdessen zog es sie wie so viel israelische Jugendliche und junge Erwachsene nach Deutschland.

Heimat, falsch definiert

Am Anfang ihrer Dokumentation „Schnee von gestern“, die einer Familienaufstellung (mit an- und abwesenden Mitgliedern) ähnelt, ergibt sich daraus ein erhellender Dialog mit den Eltern über den Begriff der Heimat. „Du definierst das falsch“, korrigiert der Vater Yael, worauf die Mutter ihm geduldig die unterschiedlichen Bedeutungen erklärt. Der Vater wirkt nicht sehr überzeugt.

Nach Deutschland ist Yael unter anderem gekommen, weil sie die Antworten auf ihre Fragen in Israel nicht finden konnte. Die Großmutter hat geschwiegen, die Mutter keine Fragen gestellt – auch aus Respekt vor dem Schmerz der Elterngeneration.

Die Frage, die Yael am meisten beschäftigt, lautet: Warum hat Feiv’ke, der den Krieg entgegen aller Zeugenaussagen überlebt hat, später nie seine Schwester in Israel kontaktiert? Mehr noch: Wie konnte er an dem Ort, an dem er für die Nazis Zwangsarbeit hatte verrichten müssen, nach dem Krieg unter dem Namen Peter Schwarz ein neues Leben mit einer deutschen Frau beginnen? Reuvenys Suche ist um eine imaginäre Szene aufgebaut, die für sie als Vertreterin der „dritten Generation“ neuralgische Punkt ihrer Familiengeschichte, aber auch ihrer kulturellen Identität als jüdische Frau ohne Heimatbezug berührt.

Die Szene spielt am Bahnhof von Lodz kurz nach dem Krieg. Hier hätten sich Michla und Feiv’ke treffen sollen: eine glückliche Familienzusammenführung von zwei Schoah-Überlebenden. Doch sie haben sich damals knapp verpasst oder nicht wiedererkannt. Vielleicht ist Feiv’ke auch nie erschienen.

Knapp verpasst

Die überlieferten Versionen dieses verpassten Treffens klingen in beiden Familien – Michlas israelischer und Feiv’kes (Peters) deutscher – identisch, aber was genau geschehen ist, lässt sich rückblickend nicht mehr rekonstruieren. Sicher ist, dass an diesem Punkt eine Familie „zerbröselte“, wie es einmal im Film heißt. An den Spätfolgen laborieren noch die Enkel.

Auf der anderen Seite ist das Interesse an der Familientragödie ebenso groß. Auch Peters Sohn will Frieden finden mit seiner anderen Familie, die der Vater für ihn und seine Mutter möglicherweise aufgegeben hat. Peters Sohn Stefan wiederum studiert in Berlin Judaistik. Sein Traum ist es, einmal Israel zu besuchen. Er nimmt, obwohl Deutscher, in der „dritten Generation“ eine Sonderstellung ein.

Yael Reuveny zeigt mit ihrer beeindruckenden Dokumentation, wie tief sich die Erfahrung der Schoah in das Bewusstsein der deutsch-jüdischen Geschichte eingegraben hat. Nicht als Staatsdoktrin, wie Yael es in Israel erlebt, sondern als historisches Narrativ, das Generationen von Menschen vereint und trennt. Das Schweigen, das diese Erzählung umhüllt, zu brechen, ist nur der erste Schritt auf dem Weg zu einer Verständigung. Drei Generationen werden dafür vielleicht nicht ausreichen.

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