Filmstart "Shame": Wärme gegen Tristesse

Im Mittelpunkt von "Shame", dem neuen Spielfilm des britischen Künstlers Steve McQueen, steht ein berufstätiger New Yorker. Er ist süchtig nach Sex.

Brandon (Michael Fassbender) hat einiges zu verbergen. Bild: dapd/prokino

Brandon (Michael Fassbender), Mitte 30, mit Raubvogelblick, bewegt sich wie ferngesteuert durch New York. Grau sein lässiges Outfit, grau die Spätwinter-Tristesse der Stadt, wenn er sein klinisch weißes Apartment verlässt. Der glatt rasierte Schlaks könnte in der anonymen Masse verschwinden, wäre da nicht die kalte Intensität seiner starren Augen, wenn er in der U-Bahn eine Frau fixiert und sie zu verfolgen beginnt.

Was genau Brandon in seinem Büro arbeitet, scheint nicht erwähnenswert. Auch der Beginn eines vielleicht bedeutsameren Flirts mit der schönen Kollegin Marianne (Nicole Beharie) nimmt schnell ein frustrierendes Ende.

Was in seiner Single-Existenz wirklich zählt, ist ein aufreibendes Doppelspiel: die desaströse Hauptfigur in Steve McQueens Film „Shame“ lebt einen exzessiven Sexkonsum aus, gleichzeitig bemüht, ihn zu beherrschen und zu verbergen.

New York fungiert als Metapher auf eine pornografisierte Konsumkultur, in der Quickies zum After-Work-Drink gehören, Internetpornos die Festplatten am Arbeitsplatz und zu Hause verstopfen, Darkrooms und Sexprofis rund um die Uhr für neue athletische Kicks sorgen.

Exhibitionistische Rammelei

Das Tabu, das den exzentrischen britischen Videokünstler Steve McQueen reizt: „Shame“ inszeniert den bizarr ausgestellten Kontrast zur Scham, wenn Brandon beispielsweise ein nacktes Paar beim Sex in einem der raumhohen Fenster eines neuen Stadthauses fixiert und sich dieselbe exhibitionistische Rammelei wenig später mit einer anonymen Sportpartnerin leistet.

Im Vergleich zu seinem großmäulig aufreißerischen Chef gibt er sich jedoch manierlich zurückhaltend. Die Pornos in seiner Wohnung sind unter Verschluss, die auf dem im Büro-PC vermeintlich unzugänglich. Der Mann handelt wie ein Süchtiger, der sich beweisen will, nicht süchtig zu sein.

An diesem Knackpunkt setzt McQueens Film ein. Der Loner nimmt die Alltagsroutine auf – die Hand unter der blau glänzenden Bettdecke, allein nach einem One-Night-Stand, masturbierend unter der Dusche. Störend die Ankündigung seiner jüngeren Schwester, ihn in New York besuchen zu wollen, beunruhigend der Fakt, dass der Büro-PC verschwindet, um auf nicht konforme Downloads geprüft zu werden.

Die undurchdringliche Fassade des Getriebenen zeigt Risse, als die chaotische kleine Schwester Sissy (Carey Mulligan) in sein Leben einbricht. Sissy, gerade getrennt und nervös vor einem lang ersehnten Gig als Sängerin, dringt mit ihrer Unordnung, ihrer Buntheit und dem distanzlosen Appell an die gemeinsame Kindheit in Brandons kontrollierte Intimität. Wenn sie Liza Minellis Song „New York, New York“ in einer Hotelbar als herzergreifendes Blues-Solo singt, fließen Brandons Tränen.

Das innere Drama des scheinbar Versteinerten

Die Scham, die der Filmtitel anspricht, hat kaum etwas mit dem Moment körperlicher Unverfügbarkeit zu tun, das im moralischen Verständnis dieser Emotion gemeint war. Michael Fassbender, der für seine Rolle den Darstellerpreis des Filmfestivals von Venedig erhielt, spielt das innere Drama eines scheinbar Versteinerten, der sich nur in emotionsloser sexueller Verausgabung zu spüren scheint, durch die Begegnung mit der jüngeren Schwester an abgespaltene Teile seines Selbst erinnert wird und sich gegen die Aufweichung seines Panzers zur Wehr setzt.

Steve McQueen, als Videokünstler erfolgreich und seit seinem IRA-Drama „Hunger“, (ebenfalls mit seinem Star Michael Fassbender) unverfroren auf Kino-Erfolgsthemen spekulierend, setzt in „Shame“ auf sein Stilgefühl, die innere Landschaft seines Antihelden in extremen Tempi spürbar zu machen.

Er dehnt Episoden, etwa Brandons voyeuristische Beutezüge in der U-Bahn exzessiv, rafft die übliche Dramaturgie von Sexszenen durch Close-Ups, arbeitet mit kalkulierten Farbzuordnungen, um der vorherrschenden Tristesse die Wärme der Nebenfiguren entgegenzuhalten, vor allem akzentuiert er die tragische Konfrontation Brandons mit seiner Erkenntnis, die Schwester aus seinem Leben katapultiert zu haben, durch eine Musikmontage, die Bach mit Diskohits der New Yorker Clubszene kontrastiert. Sissys Traum, wie sie ihn in dem emphatisch traurigen Song „New York, New York“ träumt, ist noch unerfüllt.

„Shame“. Regie: Steve McQueen. Mit Michael Fassbender, Carey Mul- ligan. Großbritannien/USA 2011, 100 Min. Jetzt im Kino.

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