Floskeln in der politischen Rhetorik: Worte wie Schneeflocken

Bei den Grünen will man drei Bier exen, wenn man im Wahlprogramm liest. Bei der FDP wird man vor Zukunftsseligkeit wuschig.

Angela Merkel, eine Frau mit kurzen Haaren in einem blauen Anzug

Angela Merkel – oft kann man nur erahnen, was sie sagen will Foto: ap

Wer Angela Merkel beim Reden zuhört, sollte sich an eine Anekdote aus ihrer Schulzeit in der DDR erinnern. Sie mochte damals den Werkunterricht nicht besonders, in dem sie aus einem Metallstück einen Kreis feilen sollte. Und Merkel, egal wie sehr sie übte, bekam es einfach nicht hin. „Nie wurde es rund, immer kleiner, aber nie rund.“ Dieses Bonmot hat die Kanzlerin in einem Talkformat der Frauenzeitschrift Brigitte erzählt, als Beispiel für körperliche Unzulänglichkeiten.

Auch Merkels Reden klingen, als rasple sie gesellschaftliche Großprobleme mit der Metallfeile klein. Nie wird es rund, aber immer kleiner. Sie mag es nicht, die Linien ihrer Politik zu beschreiben. Sie verweigert sich dem Anspruch, eine Bundeskanzlerin müsse das große Ganze anschaulich erklären. Sie zerlegt riesige Aufgaben in kleine, technisch anmutende Schrittchen, die Eisenspähne rieseln, bis selbst der aufmerksamste Zuhörer den Überblick verloren hat.

Als ein ARD-Journalist sie neulich beim Sommerinterview fragte, ob in Deutschland mehr in Digitales und überhaupt mehr investiert werden müsste, begann Merkel bei Island, wo alles besser laufe („ein kleineres Land, da geht es vielleicht auch einfacher“), sprach über ein „Online-Zugangs-Verbesserungsgesetz“, das die Koalition verabschiedet habe, machte einen Umweg über die „mittelfristige Finanzplanung“, über die man ja schon einige Investitionen festschreibe und landete am Ende bei einer Infrastrukturgesellschaft im Autobahnbau, für die sich die Koalition eingesetzt habe. Ok, stöhnte der Mann gequält. Und man hatte etwas Mitleid mit ihm. Friemelig klein oder unbestimmt groß, zwischen diesen Polen changiert die Rhetorik der Kanzlerin.

Darauf ausgelegt, auch in komplexen Situationen maximale Spielräume zu erhalten und wenig verbindliche Zusagen zu machen, steht sie in einem merkwürdigen Widerspruch zu der politischen Stimmungslage in der Republik. Über was könnte man nicht alles diskutieren! Die sogenannte Flüchtlingskrise, die in Wirklichkeit eine Krise für Flüchtende ist, nicht für reiche Europäer, ist keineswegs vorbei. Die Europäische Union ist uneins und geschwächt, Erdoğan, Putin oder Trump verändern das weltweite Kräfteverhältnis.

„Gesellschaftliche Gereiztheit“ wegen verbauter Zukunft

All das macht vielen Menschen Angst, nicht nur an den Rändern wächst die Verbitterung. Der Soziologe Heinz Bude diagnostiziert eine „gesellschaftliche Gereiztheit“ in Deutschland, die sich aus dem Gefühl einer verbauten Zukunft speise. Es brauche eine „reparative Stimmung“. Eigentlich wäre es an der Zeit, ehrlich, hart und respektvoll darüber zu diskutieren, welche Ideen die Mehrheit der Deutschen für angemessen hält, um der neuen Unsicherheit zu begegnen. Aber Merkel redet nicht, sie sediert.

Wie kann moderne politische Kommunikation in komplexen Zeiten aussehen? In welcher Sprache wird Wahlkampf gemacht? Und gibt es in der Politik Ansätze einer neuen Sprache, die die Verbitterung heilen könnte?

Wer zu lange im Wahlprogramm der Grünen liest, verspürt den Drang, drei Dosenbier von Aldi zu exen und irgendetwas kaputt zu machen. Bei der FDP wird man wuschig im Kopf vor lauter gläserner Zukunftsseeligkeit. Die Empörungsrhetorik der Linkspartei klingt heute noch so altbacken wie vor zehn Jahren. Die Parteien formulieren immer noch in altbekannten Klischees.

Und Merkel? Bleibt Merkel, selbstverständlich. Ihre Reden sind wie dicke, wattige Schneeflocken, die aus einem grauen Winterhimmel fallen. Sie decken zu, dämpfen, zeichnen die Konturen weich. Und am Ende steht stets dieselbe Frage: Was hat sie jetzt eigentlich gesagt?

Gegenentwurf zu einer überzeugenden Rede

Ihren Satz aus einem Bierzelt in Trudering, mit dem sie die europäische Herausforderung durch Trump zusammenfasste, muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei.“ Über den Sinn dieser Worte wurde tagelang im politischen Feuilleton gerätselt, sie wurden als Neudefinition des transatlantischen Verhältnisses gedeutet.

Dabei lassen sie eigentlich alles offen. Oder gab es überhaupt schon Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten? Diese Annahme wäre vermessen, schließlich wurde Merkels Handy in der Amtszeit Obamas vom US-Geheimdienst abgehört, was bekanntlich „unter Freunden“ gar nicht ging.

Was folgt aus diesem Satz? Eine neue Vorsicht im transatlantischen Verhältnis, mehr Aufrüstung in der EU, die stärkere Hinwendung zu Handelspartnern wie China? Man weiß es nicht, denkbar ist vieles. Und wie viel ist eigentlich „ein Stück“? Die Absetzbewegung von der Ankündigung ist bei Merkel schon eingebaut. Zusammenfassen lässt sich ihr Satz so: Schwierig war es immer schon, jetzt ist es noch schwieriger. Gut, darüber geredet zu haben.

Selbst bei maximalen Schwenks kultiviert Merkel ihren deeskalierenden Stil, der vom Zuhörer unmenschliche Aufmerksamkeit verlangt, weil sich das Wichtigste im unwichtigsten Relativsatz verstecken könnte. Die Kanzlerin liefert den Gegenentwurf zu dem, was der Schriftsteller und glänzende Rhetoriker Walter Jens mal als wichtigste Anforderung an eine überzeugende Rede definiert hat. Jene müsse zeigen: „Dies bin ich, und ich meine es so, wie ich es sage.“

Merkologie ist Königsdisziplin des deutschen Journalismus

Genau das ist bei Merkel nie der Fall. Was sie tatsächlich meint, bleibt ein Geheimnis, und wenn sie nach Langem Nachdenken zu neuen Schlüssen kommt, bringt sie diese möglichst beiläufig unter, damit niemand behaupten kann, sie korrigiere sich. Ihr Nachgeben bei der Ehe für alle läutete eine überfällige Revolution ein, auf die Schwule und Lesben seit Jahrzehnten hoffen. Merkel verkündete sie nicht im Parlament, auch nicht in einer Pressekonferenz vor politischen Berichterstattern, sondern ebenfalls bei der Brigitte, dem Fachblatt für progressive Gesellschaftspolitik.

Nach einer Zuschauerfrage windet sie sich minutenlang, bevor der entscheidende Satz kommt. „Und deshalb möchte ich gerne die Diskussion mehr in die Situation führen, dass es eher in Richtung einer Gewissensentscheidung ist, als dass ich jetzt hier per Mehrheitsbeschluss irgendwas durchpauke.“ In eine Situation führen. Eher in Richtung. Dann, endlich: Gewissensentscheidung. Halleluja.

Hätte nicht eine aufmerksame dpa-Journalistin eine zugespitzte Eilmeldung abgesetzt, wer weiß, ob die Dynamik in Gang gesetzt worden wäre, die die Union schließlich zur Aufgabe ihrer jahrelangen Blockade im Parlament zwang. Wie kränkend eine so verschwurbelte Sprache für Menschen sein kann, hat danach der (schwule) SPD-Wahlkampfberater Frank Stauss aufgeschrieben. Merkels verklemmtes Gestammel, wetterte Stauss, sei „wahrscheinlich die trostloseste Verkündung einer gesellschaftlichen Reform in der Geschichte der Republik“. Der Mann hat recht.

Eben weil Merkel die Nichtverständlichkeit so kultiviert, ist die Merkologie, die Merkel-Deutung, eine der Königsdisziplinen des deutschen Journalismus. Diese Kanzlerin braucht ÜbersetzerInnen wie kaum ein Kanzler vor ihr. Jene vergleichen ihre langweiligen Reden mit früheren, klopfen sie auf die Halbsätze ab, die neu sind. Die Deutungen, das liegt in der Natur der Sache, gehen oft auseinander. Manche banalen Merkel-Sätze entwickeln so ein kaum fassbares Eigenleben.

Martin Schulz geht einen anderen Weg – das muss er

„Wir schaffen das.“ Die drei Worte, die am ehesten als Aufmunterung und als Vertrauensvotum in den Staat und seine Zivilgesellschaft gemeint waren, wurden mit ungeheurer Bedeutung aufgeladen. Kritiker ihres flüchtlingspolitischen Kurses schalten Merkel als naive Sprücheklopferin, fühlten sich durch ein anmaßendes Wir in Mithaftung genommen, warfen ihr vor, keine Idee zum Wie zu liefern. Diejenigen, die Merkels Kurs stützten, lobten den Satz als leuchtendes Beispiel tätigen Humanismus.

Die Deutungsoffenheit ihrer Rhetorik erlaubt es Merkel, sich Interpretationen, die ihr passen, im Nachhinein zu eigen zu machen. Was sehr bequem ist, wenn man ein Amt ausfüllt, das Macht verleiht, aber auch vielen Begrenzungen unterliegt. Denn in einer Zeit, in der sich die entscheidenden Fragen der Regelungskompetenz des Nationalstaats entziehen, ist eine Regierungschefin ja oft sehr machtlos. Merkel macht sich mit ihrer Teflonsprache nicht nur schwer angreifbar, sie verschleiert auch ihre Ohnmacht.

Aber was macht es mit einer Demokratie, wenn die WählerInnen nur ahnen können, was ihre Kanzlerin will? Martin Schulz, der SPD-Herausforderer, geht einen anderen Weg, ja, muss es tun. Schulz spricht präziser, er liefert Konzepte, macht Ankündigungen. Womit zu rechnen wäre im unwahrscheinlichen Fall, dass er Kanzler wird, ist nicht zu überhören. Schulz verspricht Konkretes, bei der Rente, den Steuern, der Bildungspolitik.

Doch die Gefahr allzu großer Konkretion ist, dass sie Enttäuschung produziert. Wenn Schulz kritisiert, dass jeder Bäcker seine Steuern zahlen müsse, während ein globaler Kaffeekonzern sein Geld in Steueroasen parke, dann hat er sicher Recht. Aber das Änderungsversprechen, das er macht, ist brüchig. Auch ein Kanzler Schulz wird, mangels wirksamer internationaler Abkommen, Starbucks nicht zu einem anständigen, steuerzahlenden Konzern machen können.

„Rheinische Gereschtischkeit“, die da oben, wir da unten

Aber mit solchen Bilder, und das ist genuin politisch, liefert er normalen Menschen, die sich nicht ständig mit Politik beschäftigen, eine Idee von seinen Zielen. Das ist nicht alles, aber auch nicht wenig. Und noch etwas unterscheidet den Sozialdemokraten von Merkel: Seine Sprache ist emotionaler, Schulz traut sich Pathos. Manchmal wirkt das überzogen, manchmal passt es. Kann es wirklich schaden, wenn jemand in diesen Zeiten leidenschaftlicher für Europa wirbt als die nüchterne Merkel?

Merkels Sprache sagt: Lasst mich mal machen. Schulz’ sagt: Ich habe eine Idee. Davon will ich euch überzeugen. Das eine ist besser als das andere, aber beide Stile sind nicht auf der Höhe der Zeit. Merkels permanente Antwortverweigerung höhlt auf Dauer den demokratischen Diskurs aus. Es braucht sachlichen, respektvoll ausgetragenen Streit unter Demokraten so dringend wie nie. Die Unterschiede zwischen CDU oder SPD, FDP oder Grünen müssen klar erkennbar sein, nur so kann der Vorwurf der Rechten gekontert werden, die etablierten Parteien seien alle gleich.

Doch auch Martin Schulz wirkt manchmal unglaubwürdig. Keine Frage: Das ist gute, alte SPD-Rhetorik, voller Krankenschwester und Handwerker, rheinische „Gereschtischkeit“, die da oben, wir da unten. Nur ahnt man, dass da einer mit einfachen Bildern für eine komplizierte Zeit hantiert. Schulz kann fordern, dass es in Europa solidarischer zugehen müsse. Aber wenn er anderen Staaten mit Strafen droht, weiß man, dass das wenig fruchten wird. Oder glaubt irgendjemand, dass Schulz einen Viktor Orbán in der Flüchtlingsfrage zu Solidarität zwingen könnte? Die Zeiten der Basta-Ansagen eines Gerhard Schröder sind vorbei.

Es ist interessant, dass man eine neue, unverbrauchte Sprache vor allem bei den Grünen findet. Sie sind die Partei, die seit Jahren am intensivsten über politische Kommunikation nachdenkt. Weniger moralisieren, weniger Herablassung, bitte keine erhobene Zeigefinger mehr, diese Linie hat sich seit dem Veggieday-Wahlkampf 2013 durchgesetzt, in dem konservative Medien und politische Gegner die Grünen als ewige Besserwisser tituliert hatten. Dieser Vorwurf wurde gerne instrumentalisiert, um linksgrüne Politik zu diffamieren. Aber, auch das ist wahr: Ein anderer, geerdeterer Sound hilft, wenn man eine veränderungsunwillige Gesellschaft von einer radikalen Umwälzung überzeugen möchte, nämlich der, den Klimawandel als entscheidende Zukunftsfrage zu akzeptieren.

„Politik des Gehörtwerdens“

Robert Habeck zum Beispiel, der grüne Energiewendeminister in Schleswig-Holstein, spricht stanzenfrei, flicht ein paar philosophischen Gedanken ein und trägt dabei Norwegerpulli. Winfried Kretschmann verkörpert für viele Baden-Württemberger eine idealtypische Mischung aus Intellektualität, Bodenhaftung und Anstand. Seine Stimme schnarrt, er macht lange Denkpausen, manchmal schweigt er einfach nur. Aber die allermeisten Reden klingen wie lautes, ernsthaftes Nachdenken.

Auf dem grünen Bundesparteitag 2016 hielt Kretschmann eine Rede und stellte darin vor allem Fragen. „Haben wir an den richtigen Stellen Kompromisse gemacht? Müssen wir bei der Art, wie wir Politik machen, nachdenken?“ Er habe sich nicht vorstellen können, noch einmal um den liberalen Verfassungsstaat kämpfen zu müssen.

Das heiße, sich um die zu kümmern, die „Orientierung, Schutz und Sicherheit suchen und sich dabei überfordert fühlen von der rapiden Geschwindigkeit des Wandels, den wir auf allen Gebieten haben.“ Die Botschaft dieser Rede lautet: Keine falschen Versprechungen. Aber unsere Antworten müssen wir noch finden.

Kretschmann wurde 2011 auch deshalb zum ersten grünen Ministerpräsidenten gewählt, weil er eine „Politik des Gehörtwerdens“ versprach. Dieses sorgfältig komponierte Narrativ sagte den Bürgern eben nicht populistisch zu, ihre Wünsche zu verwirklichen. Aber es betonte das partizipative Element.

Reif für die Restmülltonne

Kretschmann, der sich durchaus auf harte Von-oben-Ansagen versteht und oft einfach konservative Politik macht, löst seinen Ansatz nicht immer ein. Aber was zählt, ist die moderne Erzählung. Sie wirkt geradezu prophetisch angesichts des Aufstiegs der AfD. Viele Leute wünschen sich nichts mehr, als dass ihnen endlich jemand zuhört.

Politiker müssten nicht in erster Linie Probleme lösen, „sondern sich stellvertretend für die Bevölkerung in der Welt zurechtfinden“, so formulierte es der Soziologe Bude im Spiegel. Zurechtfinden heißt aber immer erst mal schauen, forschen, zuhören. Kretschmann und Habeck nimmt man ab, genau dies zu tun.

Würden Merkel, Schulz und Co. ihre Suche nach Antworten offener thematisieren, könnte das eine neue Legitimation des Politischen schaffen. Denn Kunst heutiger Politik ist es, den Kontakt zu jenen nicht abreißen zu lassen, die zwar verbittert sind, dabei aber für demokratische Parteien noch ansprechbar.

Vielleicht ist es deshalb angebracht, als Politiker Zweifel zuzulassen. Vielleicht ist es modern, ab und zu nur Fragen zu formulieren, wenn es keine einfache Antwort gibt. Eine heilsame Wirkung hätte in der grassierenden Gereiztheit eine nachdenklichere Haltung, die in etwa besagt: Ich weiß sehr genau, wofür ich stehe. Aber ich höre euch zu, ihr könntet Recht haben. Vielleicht ist der Mythos allwissender Kompetenz, den viele Politiker pflegen, reif für die Restmülltonne.

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