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Enttäuschte Hoffnung: Ein Demonstrant bei einem Protest gegen den Putsch 2021 im Sudan zeigt in Khartum das Siegeszeichen Foto: Saskia Jaschek

Flucht aus SudanNirgendwo Menschlichkeit

Mazin hatte ein Visum für Saudi-Arabien, Mujtabas Pass lag in der deutschen Botschaft in Khartum. Dann brach Krieg aus. Geschichte zweier Fluchten.

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Saskia Jaschek aus Siracusa

F ür irgendetwas war es gut. Es hat mich stärker gemacht“, sagt Mazin*, nachdem er seine Geschichte fertig erzählt hat. Die Leitung rauscht, im Hintergrund bellen Hunde. Es ist fast Mitternacht, als wir über das Internet miteinander telefonieren. Erst jetzt ist er fertig mit seiner 12-Stunden-Schicht in der Ziegelfabrik in Libyens Hauptstadt Tripolis. Die Arbeit ist anstrengend, aber ermöglicht ihm, monatlich Geld an seine Familie in Ägyptens Hauptstadt Kairo zu senden.

Mazin kommt aus Sudan, wo seit zweieinhalb Jahren Krieg zwischen der Armee und den paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) herrscht. Nach UN-Angaben sind etwa 12 Millionen Menschen auf der Flucht, mehr als 4 Millionen von ihnen über die Landesgrenzen hinweg.

Es gab eine Zeit, da hatte Mazin Hoffnung für sein Land. Er war Teil der Massenproteste, die im April 2019 Langzeitdiktator Omar al-Bashir stürzten. Beschwingt vom Geist des Neuanfangs, wollten die Menschen Sudans damals ihr Land demokratisch neu aufbauen. Der Staatsstreich von Armee und RSF gegen die zivile Übergangsregierung im Oktober 2021 zerstörte diesen Traum. Gehen wollte dennoch kaum einer. Entschlossen stellte sich die Zivilgesellschaft gegen den Putsch. Dann zerstritten sich die beiden mächtigsten Generäle des Landes, de facto Staats- und Armeechef Abdelfattah al-Burhan und sein Vize, RSF-Chef Dagalo. Es kam zum Krieg.

Als der Krieg am 15. April 2023 in Khartum ausbricht, ist Mazin gerade dort. Seine Eltern und drei Geschwister befinden sich in ihrem Heimatort im Bundesstaat Gezira, etwa 200 Kilometer entfernt. Drei Tage lang harrt er allein in Khartum aus. Nachdem ein Schuss die Wand direkt neben ihm trifft, begibt er sich auf den Weg nach Saudi-Arabien, für das er kurz zuvor ein Arbeitsvisum erhalten hat.

Für Mujtaba* ist die Flucht schwieriger. Als der Krieg ausbricht, liegt der Pass des heute 30-Jährigen gerade zur Bearbeitung seines Schengen-Visum-Antrags bei der Deutschen Botschaft in Khartum. Wie rund 600 weitere Betroffene verliert er ihn, als die Botschaft kurz darauf evakuiert wird. Mujtaba gehört zu den fünf Betroffenen, die einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht Berlin stellen, um das Auswärtige Amt zur Herausgabe ihrer Dokumente zu verpflichten. Ihnen ist bewusst, dass eine physische Passrückgabe nach Evakuierung der Botschaft kaum noch möglich ist, doch hoffen sie auf eine Ersatzleistung, die eine Grenzpassage erlaubt.

Die Hoffnung wird enttäuscht – nach fast drei Monaten teilt die zuständige Richterin dem Anwalt der Antragsstellenden, Alexander Gorski, mit, das Auswärtige Amt habe glaubhaft dargelegt, dass eine Passrückgabe nicht möglich sei, so Gorski. Für etwaige Ersatzleistungen sei das Amt nicht zuständig, weshalb die Richterin die Klage am nächsten Tag für verloren erklären würde. Für die Antragstellenden hätte dies bedeutet, die Gerichtskosten zu tragen. Also ziehen sie die Klage zurück.

Mujtaba verbringt diese monatelange Wartezeit in seiner Heimat in Sennar, einem Bundesstaat im Südosten Sudans an der Grenze zu Äthiopien. Gekämpft wird dort noch nicht. Aber aufgrund seines Antikriegsaktivismus gerät der Ölingenieur ins Visier der Armee. Mujtaba flieht mit einem Notfallausweis nach Äthiopien.

Mit allem, was er noch hat: der sudanesische Flüchtende Mujtaba Foto: privat

Dieses Dokument gilt jedoch nur für einen Monat und genehmigt bloß eine einzige Grenzüberquerung. Um sein Ziel Uganda zu erreichen, beantragt Mujtaba bei der Sudanesischen Botschaft in Addis Abeba einen weiteren Notfallausweis. „Weil ich mich nicht ausweisen konnte, haben sie zu mir gesagt ‚Du bist nicht aus Sudan!‘“, berichtet er. Am Ende erhält er das Dokument und reist nach Uganda. Dort erhält er endlich einen gültigen Pass und registriert sich als Geflüchteter beim UNHCR.

Über ein Jahr bleibt er in Uganda. Doch im Sommer 2024 nehmen die RSF Sennar ein, seine Familie muss fliehen. Mujtaba muss Geld verdienen und seine Familie unterstützen. Uganda gilt als migrationsfreundlich. Es nimmt viele Geflüchtete auf, aber staatliche Hilfe erhalten diese nicht, berichten Betroffene. „Uganda ist ein sehr armes Land“, erklärt Mujtaba. „Es ist schwierig, Arbeit zu finden.“ Nach über einem Jahr ohne Arbeit entschließt er sich, abermals weiterzuziehen, und reist in die Türkei.

Auch Mazin muss von Saudi-Arabien aus verfolgen, wie seine Familie in Gezira im Dezember 2023 vor der RSF flieht. Der Verdienst von Vater und Bruder fällt weg. Gleichzeitig hat der Krieg die Lebenshaltungskosten rasant in die Höhe getrieben. Eine Wohnung für die Familie anzumieten, kostet Mazin umgerechnet 500 Dollar im Monat – bei einem Gesamteinkommen von 650 Dollar.

Nach einigen Wochen gelingt es ihm, seine Familie von der Flucht nach Ägypten zu überzeugen. Zwischen Ägypten und Sudan gilt eigentlich Visafreiheit. Aber Ägypten hat zu diesem Zeitpunkt die Grenze zum südlichen Nachbarn fast ganz geschlossen und Einreisevisa für Menschen aus Sudan hoch bepreist. Aus Alternativlosigkeit begibt sich Mazins Familie mit Schmugglern in die Wüste.

Drei Tage lang hört Mazin nichts von ihnen. Er erinnert sich an die Qual des Wartens. Schlafen kann er nicht. Tagsüber arbeitet er in einem Warenlager, nachts durchsucht er Nachrichten und soziale Medien nach Neuigkeiten. Dazwischen betet er, weint und raucht viel. „Am dritten Tag brach ich zusammen“, erzählt er. „Ich war der Grund dafür, dass sie dort waren, weil ich nicht das Geld aufbringen konnte, sie in Sudan zu unterstützen.“

Am vierten Tag kommt der erleichternde Anruf: Die Familie ist wohlbehalten in Ägypten angekommen. Sie ziehen nach Kairo und melden sich beim UNHCR. Sechs Monate dauert es, bis sie ihre Registrierung als Geflüchtete erhalten. In dieser Zeit sind sie illegalisiert, können sich nicht ausweisen und könnten jederzeit festgenommen und abgeschoben werden. Zugleich nehmen in Ägypten staatliche Repression und antimigrantische Propaganda gegen sudanesische Geflüchtete zu. Die Berichte von Verhaftungen und Abschiebungen auch offiziell registrierter Geflüchteter häufen sich.

Im Frühling 2025 verliert Mazin in Saudi-Arabien nach einem Streit mit seinem Vorgesetzten um Lohn seinen Job. Melden kann er den Vorfall nicht, weil der Job informell war. Als sein Visum kurze Zeit später abläuft, wird es daher nicht erneuert. Er muss das Land verlassen. Von Jeddah reist er zurück nach Sudan und von dort nach Ägypten – ebenfalls mit Schmugglern. Die Reise ist beschwerlich, doch letztlich schafft er es nach Kairo. Nach zwei Jahren sieht er endlich seine Familie wieder.

Wer bei der Flucht taumelt oder anhält, erhält von den Schleusern Stockschläge auf den Rücken

„Wir haben so viel geweint“, erzählt er. „Für meine Familie war es, als würden sie einen Geist sehen.“ Seine Mutter bereitet ihm Frühstück vor, danach fällt Mazin in einen langen, festen Schlaf. „Es war das erste Mal in zwei Jahren, dass ich schlafen konnte, ohne ein Desaster zu befürchten“, erinnert er sich.

Auch Mujtabas Aufenthalt in der Türkei ist von Visums- und Arbeitsproblemen geprägt. Für drei Monate arbeitet er in einer Fabrik in Istanbul. Das Geld reicht zum Leben, sogar etwas ansparen kann er. Dann endet sein Visum – und wird nicht erneuert. Jetzt trifft er die Entscheidung. Sein erspartes Geld gibt er Bekannten, die alles arrangieren. Dann reist er an die türkische Küste.

Am 1. August 2025 steigt Mujtaba mit 34 anderen Personen, darunter zwei Kinder und drei schwangere Frauen, in ein Gummiboot. Gemeinsam überqueren sie das Ägäische Meer Richtung Westen. Am nächsten Morgen erreichen sie die griechische Insel Farmakonisi. 2014 ertranken hier bei einem ähnlichen Überquerungsversuch acht Kinder und drei Frauen, während sie sich im Schlepptau der griechischen Küstenwache befanden. Die Überlebenden hatten angegeben, von der Küstenwache zurück in Richtung Türkei geschleppt worden zu sein – ein illegaler „Pushback“. Die Vorwürfe solcher Pushbacks gegen Griechenland halten bis heute an.

Für Mujtaba und seine Mitreisenden verläuft die Überfahrt glücklicherweise ohne größere Zwischenfälle. In Farmakonisi angekommen, werden sie von den griechischen Behörden auf die Insel Leros gebracht und als Geflüchtete registriert.

Auch für Mazin in Ägypten wird schon kurz nach seiner Ankunft klar: Dort bleiben kann er nicht. Er fährt zum UNHCR, um sich als Geflüchteter zu registrieren. Nach sieben Stunden Wartezeit wird er zu einer Mitarbeiterin durchgelassen. Er erzählt ihr von seiner Reise, seinem politischen Aktivismus in seinem Heimatland und wie er dafür schon vor Kriegsbeginn verfolgt wurde. Die Mitarbeiterin unterbricht ihn und erklärt, dies sei nur das Erstgespräch für die Terminvergabe. Sein Registrierungstermin ist erst in sechs Monaten.

Mazin widerspricht, wie er erzählt: „Ich sagte zu ihr: ‚Hören Sie, ich kann nicht so lange warten. Ich bin der alleinige Versorger meiner Familie. Ich muss arbeiten. Geben Sie mir wenigstens ein Dokument, das bestätigt, dass ich auf die Registrierung warte.‘“ Noch während Mazin spricht, verlässt die Mitarbeiterin den Raum. Ein Sicherheitsmitarbeiter gibt ihm zu verstehen, dass seine Audienz zu Ende ist. „Es war ein niederschmetternder, demütigender und absolut unmenschlicher Moment“, klagt er.

Auf den Straßen der Heimat: eine Barrikade in Khartum bei den Protesten im Jahr 2022 Foto: Saskia Jaschek

In den Wochen danach findet Mazin keine Arbeit. Dann trifft auch er eine Entscheidung: Er ruft seine Familie zusammen und verkündet seine morgige Abreise. Von Kairo reist er in die Küstenstadt Marsa Matruh. Für Ägypter ist es ein Urlaubsort, bekannt für seine schönen Lagunen und Sandstrände. Für Mazin ist es der Ort, an dem er sich erneut in die Hände von Schmugglern begibt. 30 Personen fahren an einen ihm unbekannten Ort in die Wüste. Von da geht es zu Fuß weiter. Nach einem Tag Wanderung erreichen sie den Grenzübergang nach Libyen. Hier kommen sie mit anderen Gruppen zusammen.

250 Personen sind sie nun, darunter auch Frauen und Kinder. Das Verhalten der Schmuggler ändert sich: Sie werden aggressiver, holen Stöcke heraus und schlagen damit auf Aufsässige ein. Mazin erinnert sich an die Worte der Schmuggler: „Von hier an wird nicht mehr gegangen, nur noch gerannt. Zurückfallen ist keine Option. Wer denkt, es nicht zu schaffen, sollte lieber gleich hierbleiben – vielleicht überlebt ihr es.“ Dann rennen sie los. Die anderen hinterher. Wer taumelt oder anhält, erhält Stockschläge auf den Rücken.

Irgendwann gehen die Blendgranaten los, über die die Schmuggler sie zuvor informiert hatten. Diese sogenannten nichttödlichen Sprengsätze machen durch extremen Lichtblitz und Knall kurzzeitig orientierungslos. Nach einer Weile halten die Schmuggler an. Mazin berichtet: „Ich hörte einen von ihnen sagen ‚Jetzt kommt das Minenfeld. Oh Gott.‘“ Sie stellen sich hintereinander in einer Reihe auf und schreiten vorsichtig voran. Am Horizont erscheinen die Lichter einer Stadt. Endlich sind sie in Libyen. Ein letztes Mal wird die Gruppe angehalten, für „den Teil mit dem Raub“, sagt Mazin. Dass man am Ende sein gesamtes Hab und Gut den Schmugglern übergeben muss, hatte er vorher schon gehört. „Sie haben alles genommen“, erzählt er. „Es blieb niemandem auch nur ein einziger Cent in der Tasche.“

Die Verbliebenen werden nach Tobruk gebracht, einer Hafenstadt im Osten Libyens. Dort werden sie entlassen. Wieder ist Mazin auf sich allein gestellt, wieder in einem Kriegsland. Im Osten Libyens herrscht General Khalifa Haftar, der seit 2014 gegen die international anerkannte libysche Regierung im Westen des Landes kämpft.

Die Zahl sudanesischer Flüchtender, die sich von Libyen auf den Weg über das Mittelmeer nach Europa begeben, steigt. Anfang September sanken hier kurz vor der Küste zwei Boote mit sudanesischen Geflüchteten. Mindestens 111 Menschen kamen dabei ums Leben.

„Insgesamt sehen wir dieses Jahr einen Anstieg von knapp 20 Prozent in der ersten Jahreshälfte auf der zentralen Mittelmeerroute“, sagt Lukas Kaldenhoff von der zivilen Seenotrettungsorganisation SOS Humanity der taz. Die zentrale Mittelmeerroute beschreibt die Überseepassage von Libyen nach Italien oder seltener nach Malta. Seit der Jahresmitte steigt diese Zahl noch stärker an: „Wenn man sich die letzten zwei Monate anschaut, sieht man, dass genauso viele Menschen aus dem Sudan geflohen sind wie in der gesamten ersten Jahreshälfte“, sagt Kaldenhoff.

Werden also immer mehr Su­da­ne­s:in­nen künftig die Flucht über das Mittelmeer antreten? Darüber wagt Kaldenhoff keine Prognose zu stellen. Zeitlich verzögerte Migration nach Konfliktausbruch sei allerdings kein neues Phänomen, da es eine Weile bräuchte, bis sich Fluchtrouten etablierten und sich das Wissen um sie verbreite.

Auch in Griechenland steigen die Ankunftszahlen von Menschen aus Sudan deutlich. In den vergangenen Jahren spielten sudanesische Staatsangehörige laut Kaldenhoff statistisch kaum eine Rolle. Inzwischen stammt rund ein Fünftel der Ankommenden aus dem Land. Nur vergleichsweise wenige davon, wie Mujtaba, erreichen Griechenland über die Ägäis. Die meisten nutzen Kaldenhoff zufolge die östliche Mittelmeerroute von Ostlibyen nach Kreta. Dort registrierte der UNHCR 2025 fast 13.000 Menschen, also mehr als ein Drittel aller Ankünfte landesweit. Griechenlands Regierung setzte daraufhin im Juli das Recht auf Asyl für Menschen, die auf dem Seeweg aus Nordafrika einreisen, für drei Monate aus.

Wieso es zu steigenden Ankunftszahlen in Kreta kommt, lässt sich nur mutmaßen. Für Kaldenhoff liegt die Vermutung nahe, dass die hohe Aktivität der libyschen Küstenwache im westlichen Landesteil Menschen auf der Flucht zu neuen Routen zwinge. Statt direkter europäischer Pushbacks wendet die EU-finanzierte libysche Küstenwache Pullbacks an, um Menschen von der Überfahrt nach Europa abzuhalten: Boote Richtung Europa werden abgefangen und zurück nach Libyen gebracht. Immer wieder berichten Seenotrettungsschiffe, dass die Libyer Rettungsaktionen unterbrechen oder verhindern.

Doch auch in Ostlibyen wird hart gegen sudanesische Mi­gran­t:in­nen vorgegangen. So berichtete die Nachrichtenagentur AP im Juli, 700 Menschen seien schutzlos zurück in das Kriegsland Sudan ausgeliefert worden. Für Mehdi Ben Youssef von der NGO Lawyers for Justice in Libya schaffen die Zahlungen aus Europa Anreize zu solcher Gewalt. „Die EU schließt Abkommen mit bewaffneten Gruppen, die für die Rückführungen auf See zuständig sind. Genau diese Gruppen sind auch in Schmuggel und Menschenhandel verwickelt. Man unterstützt also nicht nur die Rückführungen, sondern auch den Menschenhandel, weil alles in einem Geschäft miteinander verflochten ist“, so Ben Youssef.

Eines Abends wird Mujtaba im griechischen Lager Zeuge, wie eine Frau mitten im Lager eine Fehlgeburt hat. Die gerufene Hilfe sei nicht gekommen

Dies erkläre, wieso es in Ostlibyen zugleich vermehrt zu Deportationen und zur Entwicklung neuer Fluchtrouten über das Mittelmeer komme. „Bewaffnete Gruppen sehen, dass Geld aus Europa fließt, wenn es einen Migrationsstrom gibt. Es gibt also keinen Grund, warum sie nicht Teil des Geschäfts sein sollten“, erklärt er.

Mazin im ostlibyschen Tobruk möchte nicht in ein Boot nach Europa steigen. Er reist nach Tripolis, Libyens Hauptstadt im Westen, und registriert sich beim UNHCR. Zunächst freut er sich über die respektvolle Behandlung dort und hofft auf das UN-Umsiedlungsprogramm für besonders schutzbedürftige Personen. Doch die Aussichten sind gering. Zwar gehört Sudan zu den wenigen Staaten, dessen Bür­ge­r:in­nen sich überhaupt derzeit beim libyschen UNHCR als geflüchtet registrieren können. Aber nur ein Bruchteil kann das auch in Anspruch nehmen. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) befinden sich aktuell über 323.000 Menschen aus Sudan in Libyen. Registriert sind laut UNHCR weniger als 82.000. Denn umgeben von bewaffneten Gruppen und Konflikten, staatlichen und nichtstaatlichen Inhaftierungsanstalten und Menschenhandel, schaffen es viele Menschen gar nicht erst zum UNHCR. Und selbst wenn sie registriert sind, schützen die erhaltenen Dokumente nicht vor Verfolgung durch libysche Akteure, Folter und Verhaftung.

Fehlende Schutzmaßnahmen, unerreichbare Behörden – diese Erfahrung muss auch Mazin machen. Nach seiner Registrierung passiert nichts mehr. Er erhält keine Hilfe, und bei den zahlreichen Kontaktadressen erreicht er über Wochen niemanden. Jurist Jürgen Schurr von Lawyers for Justice in Libya schätzt die Chancen auf Umsiedlung durch den UNHCR als gering ein: „Wenn man Libyen verlassen möchte, hat man entweder die Möglichkeit, mit einem Boot zu fliehen, oder ‚freiwillig‘ in sein Herkunftsland zurückzukehren. Eine Umsiedlung ist für die Mehrheit der Geflüchteten dort keine realistische Option.“

Täuschend friedlich: das Ufer des Nils bei Khartum Foto: Saskia Jaschek

Für Mazin ist aber auch eine „freiwillige“ Rückkehr nach Sudan derzeit keine Option. Er ist sich über die Risiken, in Libyen zu bleiben, ebenso bewusst wie über die Gefahr, die eine Überseeflucht mit sich bringt. Auf beides könne er keine Rücksicht nehmen, erklärt er. Mit seinem derzeitigen Job in der Ziegelfabrik kann er immerhin seine Familie in Ägypten unterstützen. „Aber man weiß nie, wie sich die Dinge in Libyen entwickeln. Es kann schnell eskalieren“, sagt er. Dann sei eine Bootsflucht womöglich der einzige Ausweg.

Ende September kommt es zu mehreren solchen Eskalationen. Auf politische Hassreden gegen migrantisierte Menschen in Libyen folgen gewaltsame Übergriffe. Videos in den sozialen Medien zeigen Angriffe zivil gekleideter Personen auf schwarze Personen auf Märkten und öffentlichen Plätzen. Parallel dazu starten die libyschen Behörden in mehreren Städten Masseninhaftierungen. Hunderte von Su­da­ne­s:in­nen wurden verhaftet, darunter etliche Frauen und Kinder, berichtet der sudanesische Nachrichtensender Darfur24. Mazin entgeht ihnen, doch ein Ende ist nicht in Sicht.

Auch Mujtaba auf der griechischen Insel Leros steckt in einer Sackgasse. Untergebracht ist er in einem sogenannten geschlossenen Kontrollzentrum (CCAC) – abgelegen, streng überwacht und mit Stacheldraht gesichert.

Mujtaba bezeichnet den Zustand dort als nicht menschenwürdig. Toiletten und Duschen seien defekt, die zwei Mahlzeiten am Tag reichten nicht aus, um satt zu werden. Selbst kochen könne man nicht. Nicht mal Schneidemesser dürften die Insassen besitzen, aus Angst, diese könnten als Waffe verwendet werden. Beschwerden bei der Verwaltung bleiben wirkungslos. Eines Abends wird er Zeuge, wie eine Frau mitten im Lager eine Fehlgeburt hat. Gerufene Hilfe sei nicht gekommen. „Am Ende hatte sie ihre Geburt vor unseren Augen, auf der Straße“, berichtet er. Erst danach sei der Krankenwagen eingetroffen. Er hofft, Leros so schnell wie möglich verlassen zu können.

Die Geschichten von Mazin und Mujtaba stehen stellvertretend für eine nicht enden wollende Flucht von Millionen von Menschen, nicht nur aus Sudan. Es sind Geschichten ohne Ankommen, ohne Anerkennung. Auf der Suche nach Frieden, nach einer Zukunft – und nach einem Ort der Menschlichkeit.

*Name von der Redaktion geändert

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