Flucht vor russischer Besatzung: Sie entschied sich für Freiheit
Russische Truppen haben am 24. Februar 2022 ihr Dorf in der Region Melitopol besetzt. Wie die Journalistin Antonina Bukreewa es herausgeschafft hat.

„Mein Sohn rief mich an diesem Morgen ungewöhnlich früh an – um halb sieben. So etwas war noch nie passiert. Er fragte: „Mama, sitzt du oder stehst du?´ – Ich sagte, ich stünde. „Setz dich.“ sagte er. „Mama, es ist Krieg.“
Es war der Tag, als die russische Armee die Ukraine überfallen hatte. „Am 23. Februar bin ich in einem freien Land eingeschlafen, am 24. Februar in einem besetzten Land aufgewacht“, erzählt sie.
Schon bald war Jakymiwka vollständig von russischen Truppen besetzt. Panzer und andere Militärfahrzeuge kamen aus Richtung Henitschesk in die Ortschaft. Sechs Monate lebten Antonina Bukreewa und ihr Sohn unter russischer Besatzung. Sechs Monate Angst, Unsicherheit und ständige Bedrohung.

„Das Schlimmste war: Man wusste nicht mehr, wer dein Nachbar wirklich ist. Kooperiert er mit den Besatzern oder denkt er so wie du. Wem kann man trauen?“ Nun musste man genau aufpassen, was man sagte. „Ein falscher Satz, ein Kommentar über fehlendes Brot oder etwas anderes, konnte zur Denunziation führen. Und dann kann ein Mensch schnell verschwinden, spurlos“, berichtet sie.
Bukreewa wohnte in der Nähe der Polizeistation, die sofort nach dem Einmarsch von den Russen übernommen worden war. Dort wurden Menschen verhört und misshandelt, berichtet sie. „Ich habe die Schreie von dort gehört.“ Schlimm sei es vor allem für die Kinder gewesen, die auch diese Schreie gehört hatten und ganz verschreckt waren.
24 Stunden im Dienst
„Mein Sohn war zu diesem Zeitpunkt ununterbrochen im Einsatz. Die Feuerwehrleute wurden in verstärkter Schicht eingesetzt. Nun hatten sie 24 Stunden Dienst, das heißt, er war einen Tag bei sich zu Hause, dann wieder 24 Stunden im Dienst. Über zwei Monate lang hielten sie diesen Rhythmus durch, ohne Pause.
Die Besatzer versuchten in den besetzten Gebieten, die Feuerwehrleute zur Zusammenarbeit zu zwingen. Doch die widersetzten sich, wofür einige von ihnen hart bestraft wurden. Sie wurden in Handschellen abgeführt. Einige sind seitdem verschwunden. Doch die Feuerwehreinheit meines Sohnes hatte Glück. Seine Einheit hatte von den Besatzern keinen Besuch erhalten. Warum? Wahrscheinlich wollten sie die Lage nicht noch weiter anheizen. Klar war aber auch, dass sie früher oder später kommen würden.
Am 31. August 2022 kam dann der offizielle Befehl aus Kiew: Alle Feuerwehrleute aus Jakymywka sollten sich bis 10. September in Saporischschja melden. Am Nachmittag versammelte der Chef der Feuerwehr von Jakymywka seine Feuerwehrleute. Jeder könne sich nun entscheiden, was er wolle: vom Dienst ausscheiden, wegziehen oder weiter im besetzten Gebiet arbeiten.
„Für mich und meinen Sohn war seit dem ersten Tag des russischen Überfalls und der Besatzung unseres Dorfes klar“, sagt Antonina, „wir entscheiden uns für die Freiheit. Wir hatten in der ganzen Zeit buchstäblich auf unseren Koffern gelebt. Wir waren bereit, jederzeit auf das besatzerfreie Gebiet zu gehen. Wir hatten nur auf diesen Befehl gewartet.“
Am 3. September 2022 sind sie in Saporischschja eingetroffen. Dort hatte ihnen eine Bekannte eine leerstehende Wohnung, ohne Möbel, mit kahlen Wänden, angeboten. Die beiden kauften Matratzen und schliefen anderthalb Monate auf dem Boden. Dann erhielten sie vom Roten Kreuz Feldbetten, die sie noch heute nutzen. Geschirr, Bettwäsche und anderes erhielten sie von befreundeten Journalisten.
100 Euro Rente
Der Staat gab ihnen jeweils 50 Euro Unterstützung. Sie erhält diese Unterstützung weiterhin, ihr Sohn nicht mehr, da er ja bei der Feuerwehr angestellt ist. Hinzu kommen 100 Euro Rente und 20 Euro medizinische Beihilfe. „Stressbedingt leide ich unter Sehschwäche“, berichtet sie. Auf einem Auge sei sie fast blind. „Bei den derzeitigen Preisen würde mir das zum Leben nicht ausreichen. Deswegen bin ich froh, dass mein Sohn mich finanziell unterstützt.“
Die Zeit der Besatzung, berichtet sie, war geprägt von Angst und Gewalt. Menschen wurden entführt, geschlagen, gefoltert. Eine Bekannte, eine ehemalige Bürgermeisterin eines Dorfes, wurde aufgrund haltloser Anschuldigungen festgenommen, weil sie sich weigerte, mit den Besatzern zu kooperieren. Einige Tage wurde sie festgehalten und verhört. „Ich habe sie kurz danach gesehen. Ihre Handgelenke waren von den Handschellen gezeichnet.“ Ich habe sie nicht gefragt, was da alles war. Hauptsache, sie war wieder frei.
Ein anderer Freund, ein pensionierter Polizist und Unternehmer aus Melitopol, wurde verschleppt, misshandelt, ihm wurden die Zähne ausgeschlagen. Ihn hatte man, so berichtet sie, mehrere Tage in einem Keller festgehalten. Nur durch öffentlichen Druck wurde er freigelassen. Heute lebt er mit seiner Familie in der Nähe von Kiew.
„Viele meiner Freunde und Bekannten wurden zu Kollaborateuren. Einige haben die russischen Besatzer sogar freudig empfangen. Andere, wie meine Kollegin Irina Lewtschenko und ihr Mann, wurden auf der Straße festgenommen. Er wurde nach kurzer Zeit wieder freigelassen, von ihr hatten wir vor Kurzem gehört, dass sie möglicherweise in einer Haftanstalt auf der Krim ist.“
Die Okkupation habe tiefe seelische Wunden hinterlassen – nicht nur bei den Erwachsenen. Kinder wachsen mit Angst, Gewalt und Unsicherheit auf. Viele benötigen heute psychologische Hilfe, um das Erlebte zu verarbeiten.
„Während der Besatzung habe ich am 24. August 2022, dem Unabhängigkeitstag, das Gedicht „Gelb-blauer Kaffee“ geschrieben, das mit folgenden Zeilen endet: Unsere Soldaten kämpfen in einem gerechten Krieg für den Traum, dass an einem friedlichen Morgen in jedem Haus Kaffee gekocht wird – stark, unabhängig und gelb-blau wie unser Staat!“
„Auf freiem Gebiet habe ich weitere Gedichte geschrieben, weil die erlebten Emotionen einen Ausweg suchten. Eines davon ist „Die Schlüssel zum Haus“. Es endet mit den Zeilen: Wir werden zurückkehren, ich weiß es, wir werden den ganzen Schmutz und Müll beseitigen, denn die Schlüssel zum heimischen Haus sind die Schlüssel zu einem neuen Leben!“
„Am 12. August 2022, kurz vor unserer Flucht, habe ich diesen Vers geschrieben: Ich weiß nicht, wann wir zurückkehren, doch ich weiß, wir werden zurückkehren.“
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