Flüchtlinge auf Lesbos: Die letzte Hand

Flüchtlinge werden von Lesbos aufs Festland gebracht. Es ist eine Reise ins Ungewisse. Wer jetzt noch ankommt, muss zurück. Der Bericht eines Helfers.

Hütten und Zelte in der Macchia

Das Moria-Flüchtlingscamp auf Lesbos Foto: Björn Kietzmann

LESBOS taz | Amir F. aus Pakistan kommt jeden Morgen zu mir ans Kleidungszelt. Seit zwei Monaten lebt er in einem der weißen Zelte. Der durchtrainierte 19-Jährige hält meist einen Becher Tee in der linken Hand und trägt eine graue Mütze mit dem Namensaufdruck seines Idols, des Wrestlers John Cena. Meist bittet er um ein neues T–Shirt oder eine Hose, fast immer verlässt er das Zelt, ohne beides erhalten zu haben, aber trotzdem nie schlecht gelaunt.

Die Reserven reichen nicht für Doppelverpflegung. Aber das ist ihm inzwischen fast egal, eigentlich kommt Amir, um mit den Helfern zu plaudern und sein Englisch mit uns zu üben. Er ist einer von knapp 850 überwiegend pakistanischen Flüchtlingen, die zurzeit im Olive Grove Camp in Moria auf der griechischen Insel Lesbos wohnen. Für sie ist der Camp-Alltag erträglich, solange die Sonne scheint. Neben Teezelt und Kleidungsausgabe gibt es einen Basketballplatz, einen Pizzaofen und sogar eine Kinderecke.

Damit soll jetzt innerhalb von 48 Stunden Schluss sein – als Folge der am Freitag getroffenen Vereinbarung zwischen EU und Türkei. Alle 6.000 Flüchtlinge, die sich auf den griechischen Inseln der Ostägäis befinden, sollen noch im Laufe des Montags evakuiert, also per Fähre nach Kavala auf das griechische Festland gebracht werden. Von dort an ist ihre Reise, wieder einmal, eine Fahrt ins Ungewisse.

Sie können Asyl beantragen. Für die pakistanischen Männer und Familien aus dem Olive Grove Camp sieht es dabei aber nicht gut aus. Für sie bedeutet Kavala wahrscheinlich das Ende des europäischen Traums, denn die griechische Regierung sieht sie zumeist als Wirtschaftsflüchtlinge an.

Keine Informationen an die Flüchtlinge

Samstag, der Tag vor dem Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommens. Als Amir am Samstagabend wieder einmal vor mir steht, um sich ein neues T–Shirt abzuholen, wissen die freiwilligen Helfer bereits um sein Schicksal. Wir haben von der Lagerleitung Anweisungen erhalten, den Flüchtlingen keine Informationen über ihre anstehende Reise mitzuteilen.

Zu groß ist die Angst davor, dass sie in der Nacht das Zeltlager verlassen könnten, um sich auf der Insel vor der anrückenden Polizei und ihrer Deportation zu verstecken. Seit das drahtlose Internet im Camp kollabiert ist, sind wir ihre einzige Quelle für Informationen. Doch Amir und viele andere merken schnell an unseren Reaktionen, dass etwas nicht stimmt.

Der EU-Türkei-Deal sieht vor, dass für jeden Flüchtling, den die Türkei aufnimmt, ein Flüchtling aus der Türkei in Europa angesiedelt wird. So zumindest lautet der Fahrplan. Doch Giorgios Kyritsis, der Sprecher der griechischen Regierung in Migrationsangelegenheiten, äußert seine Zweifel: „So ein Plan kann nicht innerhalb von 24 Stunden umgesetzt werden“.

Kampfausrüstung, Plexiglasschilder und Sonnenbrillen

Sonntag, seit Mitternacht ist die Vereinbarung in Kraft, aber sie wird zunächst nicht umgesetzt. Wir schieben Doppelschichten, ich bin bereits seit 20 Stunden im Dienst, als wir am Sonntagmittag die Nachricht erhalten, dass die Polizei eingetroffen sei und mit der Deportation begonnen habe. Mit Kampfausrüstung, Plexiglasschildern und breiten Sonnenbrillen stehen sie in der griechischen Mittagssonne vor unserem Camp.

Die Campleitung ruft die knapp 40 Freiwilligen für eine kurze Ansprache zusammen. „Haltet euch aus der Arbeit der Polizei raus, aber seid Augenzeugen dessen, was hier passiert“, lautet der Appell. „Vielleicht können wir so zumindest sicherstellen, dass menschlich mit den Flüchtlingen umgegangen wird.“

Eine junge Helferin aus Finnland kann ihre Tränen nicht zurückhalten. Alle sind betroffen, wischen die Augen trocken, atmen tief durch, dann öffnen wir wieder für Amir und die anderen. Und versuchen zu lächeln, um die Situation so entspannt wie möglich zu halten und den Abreisenden Halt zu geben.

Nachzügler sind illegale Immigranten

Für Amir habe ich am Sonntagnachmittag leider kaum Zeit, er steht mit apathischem Blick neben dem Geschehen. Eine Welle von Neuankömmlingen hat über Samstagnacht noch versucht, die Insel zu erreichen. An den Stränden um Mytilini, der großen Hafenstadt der Insel Lesbos, landen im Morgengrauen mehr als zehn Boote. Wir sind per WhatsApp direkt mit den Crews am Strand vernetzt und erwarten die frisch Eingetroffenen bereits mit der nötigsten Kleidung.

Wieder sterben einige, als ein Schlauchboot auf Felsen platzt. Diejenigen, die überleben, werden sofort registriert, um gegenüber Behörden belegen zu können, dass sie Europa vor dem 21. März erreicht haben. Denn das Schicksal derer, die danach die Strände von Lesbos erreichen werden, scheint bereits festzustehen. Da die Türkei es zur Bedingung gemacht hat, dass die Rückkehrregelung nur für Neuankömmlinge gilt, werden die Nachzügler als illegale Immigranten mit Zwischenstopp in der Türkei in ihre Heimatorte zurücktransportiert. Das soll Nachzügler abschrecken, vor allem die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge.

Doch Mitarbeiter vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, Vertreter von Ärzte ohne Grenzen und die Freiwilligen sind sich einig: Die Menschen werden weiterhin kommen. Sie werden sich nicht mehr wie bisher registrieren lassen und sich so um Asyl bewerben können. Für sie bedeutet es, dass sie andere Wege finden müssen, nach Europa zu gelangen. Wahrscheinlich wird ihr Weg weiterhin über Lesbos führen, meint Katie, die das Olive Grove Camp mitbetreibt. „Nur können wir sie jetzt nicht mehr legal unterstützen, verpflegen und ihnen einen Schlafplatz bieten. Sie müssen sich jetzt im Freien auf eigene Faust durchschlagen.“

Der lange Winter des Wartens endet

Montag, auf Lesbos wird das EU-Türkei-Abkommen nun tatsächlich umgesetzt. Zum Mittagessen gibt es Linseneintopf mit Kartoffeln in Pappbechern. Danach ist es so weit. Der Abtransport beginnt.

Als die Polizei die ersten 150 Menschen in Busse verlädt, stehe ich inmitten verschnürter Taschen und bleierner Minen. Manche der Flüchtlinge haben einen nächsten Schritt seit Monaten herbeigesehnt, auch wenn sie nicht wussten, wie er aussehen würde. Mit dieser Rückkehrvereinbarung endet für sie am heutigen 21. März, dem offiziellen Frühlingsbeginn, der lange Winter des Wartens. Andere brechen angesichts der erneuten Ungewissheit in Tränen aus.

Ich spreche ihnen Mut zu, die letzte Hand, die ich schüttle, ist die von Amir. Er lächelt gezwungen und schenkt mir seine John-Cena-Mütze. Wir umarmen uns. Dann verlasse ich den Vorplatz und lasse meinen Tränen in einer Nebengasse gemeinsam mit andere Freiwilligen freien Lauf. Der erste von vielen Bussen fährt mit leisem Brummen ab.

(Der Autor ist derzeit freiwilliger Helfer im Olive Grove Camp in Moria auf Lesbos)

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