Flüchtlinge im „Jungle“ von Calais: Zwischen Schlamm und Tränengas

Der politische und polizeiliche Druck auf die Bewohner des Camps an der Kanalküste ist unerträglich. Die Furcht vor einer Räumung wächst.

Zelte und Flüchtlinge in Calais

Der Jungle von Calais. Das Flüchtlingscamp ist von der Räumung bedroht. Foto: (dpa)

CALAIS taz | In dieser Nacht ist es ruhig im Jungle. Weniger Menschen als gewöhnlich ziehen über den halbasphaltierten Weg zwischen den Hütten. Die Polizisten bleiben auf ihrem Kontrollposten kurz vor dem Eingang. Von der Autobahnbrücke, die darüber führt, flackert das Blaulicht einer Streife. Auf das Dach des afghanischen Restaurants trommelt der Regen. Gedrängt sitzen die Männer auf den Bänken der Gaststube. Holzplatten bedecken den Boden, die Wände sind mit Aluminiumfolie verkleidet, das hilft gegen die zugige Kälte des Kanal-Winters. Auf einem Tisch in der Mitte liegen Mobiltelefone, die aufgeladen werden. Eine ruhige Nacht im Jungle, dem inoffiziellen Flüchtlingslager am Rand eines Industriegebiets bei Calais.

Ganz anders als letzte Woche, als dichte Schwaden von Tränengas hier in der Luft hingen. Vergeblich suchten Menschen mit juckenden Augen und brennender Gesichtshaut Schutz in den Hütten. Auch Gummigeschosse feuerten die Polizisten vom Eingang aus ab, während manche Migranten Steine warfen. Drei Nächte dauerten die Krawalle an. Begonnen hatte alles mit einer Autobahnblockade kurz nach Neujahr. 400, vielleicht 500 Migranten versuchten, den Verkehr oben auf der Brücke lahmzulegen, um sich Zugang zu den Lkws zu verschaffen, die von hier aus zum Tunnel unter dem Ärmelkanal fahren.

Eine Verzweiflungstat, ohne Aussicht auf Erfolg. Und ein Symbol dafür, wie sehr sich die Lage im Jungle zugespitzt hat. Die Zäune am Hafen sind zu hoch, der Klingendraht ist zu dicht, die Polizisten am Tunnel mit Hunden und Hubschraubern sind zu zahlreich, und obwohl England gerade einmal 30 Kilometer entfernt liegt, ist die Grenze nahezu unüberwindbar geworden. Mehr und mehr werden die Auseinandersetzungen mit der Polizei, die tagsüber in Kampfmontur durch das Camp patrouilliert und nachts salvenweise Tränengas von der Brücke feuert. Die Patronen liegen auf dem sandigen Boden verstreut.

Nach 75 Tagen hier ist Ahmad zum Experten für Reizgas geworden. Früher, in Afghanistan, war der schmale 24-Jährige Ingenieur. Heute analysiert er den Effekt von Tränengas – „Weinen und Jucken“– im Vergleich zum CS-Gas – „schlimmer, weil es auf die Atemwege geht“. Letzteres sprühen die Beamten ihm ab und an ins Gesicht, wenn er auf der Straße an ihnen vorbeikommt. Manchmal, erzählt ein anderer Afghane, sagen sie erst noch bonjour. Die Umsitzenden nicken. Es ist der gedämpfte Morgen nach der ruhigen Nacht, das gleiche Restaurant, müde und ausgezehrte Gesichter. Ein Mann mittleren Alters isst mit seinem kleinen Sohn schweigend eine Mahlzeit. Daneben widmet sich ein Jugendlicher auf seinem Telefon einem Ballerspiel. Das Geräusch von Schüssen füllt den Raum. Draußen geht wieder ein Schauer nieder.

Hunde und Hubschrauber

Der Jungle scheint zu ertrinken in diesem nassen Januar am Kanal. Selbst auf den Wegen sind die Pfützen vielfach zu groß geworden, um darüber zu springen. Auf den kleineren Pfaden werden die Pfützen zu Prielen, und so manch verlassenes Zelt, das in einer Senke aufgestellt wurde, schwimmt mehr, als dass es steht. Was für ein Kontrast zu den blendend weißen Containern, die sich am anderen Ende des Jungle auf massiven Betonfundamenten erheben. Meist stehen zwei davon übereinander. Einige Treppen, die zu den oberen Etagen führen sollen, liegen noch auf dem frischen Kies, der zwischen den Containern aufgeschüttet ist. Das Interieur ist karg, sauber und einfach. Im Neonlicht warten doppelstöckige Feldbetten auf die ersten Bewohner.

Am Rand des abgetrennten Geländes werden an diesem Morgen Pakete mit neuer Bettwäsche geliefert. Ein dunkelgrüner Zaun umgibt die Container, der freilich schon in die Umgebung integriert ist: Hier und da hängt eine Hose darin, die vielleicht irgendwann einmal trocknen wird. Die Container sind Teil eines Plans der Präfektur von Calais: Man will die Ausmaße des Jungle beschneiden, um das Gebiet besser kontrollieren zu können. Dazu soll ein Teil der Flüchtlinge aus ihren provisorischen Behausungen in die Container ziehen. Die ersten von insgesamt 1.500 Personen werden an diesem Tag einziehen. Wer bisher ein Zelt statt eines hölzernen Verschlags bewohnt, soll Vorrang bekommen. Ein kleines Auffanglager für Frauen und Kinder in einem alten Ferienheim in der Nähe bietet weiteren 500 Personen Platz.

Man munkelt, man spekuliert, man bangt: Will die Regierung ihn erst verkleinern und dann ganz räumen?

Was mit den übrigen 3.000 oder 4.000 Flüchtlingen geschehen wird? Das fragt sich auch Munir Hussain, einer aus der kleinen Gruppe Pakistaner, deren Zelte in der Nähe stehen. Eine dicke Kapuze umgibt sein Gesicht. Die klamme Kälte ist ihm auf die Atemwege geschlagen, gerade hat er sich bei einem Ärzte-ohne-Grenzen-Posten Medikamente abgeholt. Was dieses viel zu kleine Containercamp soll, weiß niemand so richtig, sagt der Pakistaner, und schnäuzt sich in seinen Schal. Und genau darum herrscht im Jungle Ungewissheit allenthalben. Man munkelt, man spekuliert, man bangt: Will die Regierung ihn erst verkleinern und dann ganz räumen?

Kampfausrüstung und Maschinenpistolen

Die Gerüchte bekommen umgehend neue Nahrung. An einer Weggabelung lässt eine Gruppe Polizisten alarmbereit die Blicke schweifen. Zur üblichen Kampfausrüstung tragen sie Maschinenpistolen. Ein paar Meter entfernt stehen Vertreter der Präfektur, umringt von Jungle-Bewohnern, freiwilligen Helfern und Lokaljournalisten. Sie diskutieren, Arme weisen auf den Rand des Jungle und in Richtung der Autobahn dahinter. Sikander, ein mittelalter Mann mit Mütze, der die Afghanen repräsentiert, steht der Schreck ins Gesicht geschrieben. „Die Präfektur hat beschlossen, dass ein Streifen von Hundert Metern um die Autobahn nicht mehr bewohnt sein darf. Sie haben uns drei Tage gegeben, um mit allen Behausungen umzuziehen. Das können wir niemals schaffen!“

Die Mitarbeiter der Präfektur sind schnell wieder verschwunden. Doch sie haben etwas hinterlassen: rosa Sprayfarbe auf dem Boden, als Markierung der neuen verbotenen Zone. 1.000 Menschen seien von der Verfügung betroffen, sagt ein englischer Freiwilliger, und seiner Stimme hört man an, dass er nach Fassung ringt. Am Nachmittag kommen Vertreter der verschiedenen Gruppen der Jungle-Bewohner zusammen: Afghanen und Syrer, Sudanesen und Eritreer, Kurden, Pakistaner, Iraner. Wie immer ist die Versammlung nicht zugänglich. Sikander, der Repräsentant der Afghanen, ist kurz vor Beginn besorgt: „Viele hier wissen noch gar nichts von der neuen Situation.“

Tatsächlich geht der Jungle- Alltag scheinbar unverändert weiter. In der Nähe der Kirche hat sich wie jeden Nachmittag eine Gruppe Sudanesen unter einem Plastikdach zum Dominospiel versammelt. Und wie jeden Abend gehen mit Einbruch der Dunkelheit Menschen mit weißen Plastiktüten in der Hand von der Essensausgabe zurück zu ihren Zelten. Noch immer dauert die Besprechung an. Erst spät am Abend kommt eine Erklärung: „Wir, die vereinten Menschen aus dem Jungle von Calais, lehnen die Forderungen der französischen Regierung bezüglich der Reduzierung der Größe des Jungle ab. Wir haben uns entschieden zu bleiben, wo wir sind. Wir werden friedlich Widerstand gegen die Regierungspläne leisten, unser Zuhause zu zerstören.“

Verbotene Zone

Inzwischen haben die Schauer aufgehört, die Temperatur ist etwas gestiegen. In einer trockenen Nacht wie dieser sieht man auf den gut zehn Kilometern bis zum Kanaltunnel überall kleine Grüppchen von Flüchtlingen. Sie ziehen durch die Straßen einer Stadt, in der es von Anspielungen auf England nur so wimmelt. Die alte Bierkneipe Le Liverpool im schäbigen Hafenviertel, das Bistro L’Hovercraft oder die glitzernde Brasserie The London Bridge an der vollrenovierten Place d’Armes: Die Gesichter Calais ändern sich, die Nähe zu England bleibt. Im Jungle hat man neulich einen matschigen Trampelpfad in David Cameron Street benannt.

Auch acht junge Afghanen haben sich zum Tunnel aufgemacht. Wieder einmal laufen sie durch die Außenbezirke. Und obwohl einer von ihnen sagt, seit drei Monaten habe es niemand mehr hinüber geschafft, scheint England nun auf einmal näher als die Ungewissheit, die dieser Tag gebracht hat. Ihr Fokus liegt auf dieser Nacht. „Ich habe nur ein Zelt, das kann ich leicht woanders aufstellen“, sagt einer. Ein anderer widerspricht. „Ich will mit der fucking police kämpfen!“, schnaubt er und weist auf ein drittes Mitglied der Gruppe. „Zeig mal deine Stirn!“ Der Angesprochene schiebt die Kapuze hoch und entblößt eine Kruste mitten auf der Stirn. „Von einem Gummigeschoss.“

Etwa zur selben Zeit wandern auf der Straße, die quer durch das Industriegebiet zum Jungle führt, drei Gestalten in die andere Richtung. Zwei tragen eine Tasche, ein dritter zieht einen kleinen Koffer. Neue Flüchtlinge mit dem alten Traum von England. Dass sie zum denkbar ungünstigen Zeitpunkt nach Calais gekommen sind, wissen sie noch nicht. Geradeaus liegt der Jungle. Es ist stockdunkel, doch das Blaulicht oben auf der Autobahnbrücke weist ihnen den Weg.

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