Geschmacksveränderung: Und plötzlich liebte ich Schokoladeneis
Wer öfter etwas ausprobiert, trainiert seine Akzeptanz. Das gilt auch fürs Essen.
D ie Eissaison begann dieses Jahr mit einem Flop. Ich bestellte eine Kugel Earl Grey im Becher, erwartete eine Geschmacksexplosion und bekam – na ja das, was es ist – gefrorenen schwarzen Tee. Kein guter Nachtisch, stellte ich fest und löffelte meinem Freund sein Haselnusseis weg. Warum ich nicht einfach mal Schokolade bestelle oder Stracciatella, fragte er, irgendwas Normales.
Schokoladeneis mochte ich noch nie. Als ich in einem Eisladen arbeitete, probierte ich es trotzdem immer wieder, denn kaum eine Sorte ging so gut weg wie Milchschokolade mit Mandelkrokant. Mir schmeckte es einfach nicht. Bis dieser Sommer kam. Nach dem Earl-Grey-Unfall wagte ich es und bestellte eine Kugel belgische Schokolade. Auf einmal liebte ich alles daran: die Cremigkeit, den Zucker, die minimale Herbe. Was war plötzlich los mit mir?
Auf der Suche nach Antworten rufe ich Geschmacksforscher Maik Behrens vom Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an. Wie kann das sein, dass ich jetzt Schokoladeneis mag? Wir haben angeborene Vorlieben und Abneigungen für Geschmäcker, erklärt Behrens. Die Abneigung gegenüber Bitterem sei bei Neugeborenen sehr ausgeprägt, dafür bevorzugten sie Süßes, wie eigentlich alle Wirbeltiere. Im Laufe des Lebens verändere sich dann oft, was uns gut oder schlecht schmeckt, je nachdem welche Erfahrungen wir mit Lebensmitteln machten.
Ich denke an die salzigen Cracker, die ich auf einem Flug gegen die Übelkeit gegessen habe und sie danach jahrelang nicht anrühren konnte. Oder dass ich Malzbier gerne trinke, weil es mich an meine Uroma erinnert. Was wir mögen oder nicht, hängt also stark mit den Erlebnissen zusammen, die wir mit dem Essen machen. Ein Schokoladeneistrauma habe ich aber nicht.
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Maik Behrens vermutet stattdessen eine Erkältung hinter meinem plötzlichen Geschmackswandel. Mit der Zunge können wir nur die fünf Grundgeschmäcker unterscheiden: süß, salzig, bitter, sauer und umami. Aber mit der Nase und durch die Geruchsstoffe, die aus der Nahrung über den Rachenraum zu ihr dringen, könnten wir noch viel mehr wahrnehmen.
Behrens spricht vom retronasalen Riechen. Wie wir Aromastoffe riechen, bestimme oft auch, ob uns etwas schmecke. Eine bittere Geruchskomponente der Schokolade habe mich wahrscheinlich gestört, sagt er. Seit einer Erkältung sei diese Geruchskomponente in meiner Nase aber möglicherweise nicht mehr so dominant. Stattdessen nehme ich die Süße der Schokolade jetzt reiner wahr.
Damit hält jeder Schnupfen, der diesen Winter auf uns wartet, potenziell einen Gewinn bereit. Was mir bald alles schmecken könnte! Karamell? Marzipan? Camembert?
Dann sagt Forscher Behrens noch: „Wer öfter etwas probiert, trainiert die Akzeptanz.“ Das gilt nicht nur fürs Schmecken, denke ich kurz, aber er spricht schon weiter. Zwar könnten wir nichts tun, wenn uns ein Bitterrezeptor auf der Zunge fehle – der Grund warum manchen Rosenkohl zum Beispiel bitterer vorkommt als anderen. Aber wir könnten unseren Geschmacks- und vor allem Geruchssinn trainieren, durch aufmerksames Riechen und Schmecken. Vielleicht stelle ich mit der Zeit fest, dass Camembert nicht nur muffig schmeckt, sondern auch süß oder nussig?
Schokoladeneis wird mich jetzt immer daran erinnern, dass wir uns ein Leben lang weiterentwickeln. Und es nicht nur eine zweite Chance geben kann, sondern auch eine fünfte und sechste.
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