Forscher über Integrationserfolge: „Bei uns kommt alles 25 Jahre zu spät“

Klaus J. Bade ist Deutschlands wichtigster Migrationsforscher. Jetzt verlässt er den Sachverständigenrat für Integration. Er spricht über unbelehrbare Politiker und das Osloer Attentat.

Demos gegen Monokultur sind heute Alltag – ein Erfolg, finden Forscher. Bild: dapd

taz: Herr Bade, Sie forschen seit den achtziger Jahren zum Thema Einwanderung und beraten die Politik. Reicht es Ihnen jetzt?

Klaus J. Bade: Nein, im Gegenteil. Mitte der achtziger Jahre sind einige Kollegen aus der Migrationsforschung abgesprungen, weil sie keine Lust mehr hatten, Buch für Buch vorzulegen, ohne dass sich die Politik bewegte. Wenn man mehr als drei Jahrzehnte denselben Karren schiebt und den Eindruck hat, die Straße ist immer dieselbe und der Karren fällt immer in dieselben Löcher, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Man lässt es – oder man schiebt schärfer an. Ich habe mich für Letzteres entschieden.

Warum hören Sie dann zum 1. Juli als Vorsitzender des Sachverständigenrats Integration und Migration auf?

Ich hatte von Beginn an nur drei Jahre zugesagt. Jetzt will ich mich wieder in eigener Sache klarer und provokanter zu Wort melden, als das als Vorsitzender des Sachverständigenrats möglich ist. Wenn man für ein ganzes Gremium spricht, muss man seine Worte sehr abwägen.

Wo stehen wir heute, nach über 50 Jahren Einwanderung?

67, lehrte bis zur Emeritierung 2007 am von ihm mitgegründeten Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Uni Osnabrück. Er saß im Zuwanderungsrat der Bundesregierung, nahm am Integrationsgipfel und der Islamkonferenz teil. Den Vorsitz des Sachverständigenrats für Integration und Migration, den er nun zum 1. Juli abgibt, übernahm er 2008.

In den letzten zehn Jahren ist in der Migrations- und Integrationspolitik mehr passiert als in den vier Jahrzehnten zuvor zusammen: die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, das Zuwanderungsgesetz, die Islamkonferenz, der Nationale Integrationsplan. Integration ist hierzulande eine Erfolgsgeschichte und viel besser als ihr Ruf, sie kann sich im internationalen Vergleich durchaus sehen lassen. In Frankreich, England oder den Niederlanden ist die Lage schwieriger.

Nachdem die CDU lange geleugnet hat, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, hat sich in den vergangenen Jahren also einiges bewegt. Hat sie letztlich mehr erreicht als Rot-Grün?

Nein, die entscheidenden Anstöße für diese ganze Entwicklung waren rot-grüner Natur, die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, wenn auch wegen der damaligen Opposition weniger klar als angestrebt, auch das Zuwanderungsgesetz, das waren die ersten Meilensteine. Aber Rot-Grün war auch nicht so offen, wie wir gehofft hatten. Die parteipolitische Zuordnung bei Erfolgen und Misserfolgen ist nicht so leicht.

Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration wurde 2008 von acht Stiftungen ins Leben gerufen. Das unabhängige Expertengremium, dem neben dem Vorsitzenden acht weitere Mitglieder angehören, soll die Entwicklung von Migration und Integration und der entsprechenden Politik kritisch begleiten. Dazu legt der Rat unter anderem jedes Jahr ein Gutachten vor. Am 1. Juli geht der Vorsitz von Klaus J. Bade auf die Göttinger Juristin Christine Langenfeld über.

Sie haben Begriffe geprägt wie den der „nachholenden Integration“, der heute auch von Konservativen zu hören ist. Sind Sie glücklich darüber?

Was ich nachholende Integrationspolitik genannt habe, fanden zunächst alle toll. Bis sie gemerkt haben, dass der Begriff auch beinhaltet, dass die Politik etwas verpasst hat. Dann wurde daraus die „nachholende Integration“ gemacht – als alleinige Bringschuld der Einwanderer. Der Begriff des Zuwanderers ist auch so eine Umdeutung: Sinngemäß bleibt der Einwanderer, der Zuwanderer könnte wieder gehen. Dennoch gilt: die Politik ist nicht mehr so beratungsresistent wie früher.

Gilt das auch für CSU-Innenminister Friedrich?

Friedrich versteht Integrationspolitik nicht als das, was sie ist: als Gesellschaftspolitik. Schäuble war da weiter. Austeilen gegen Salafisten und ab und an auch mal gegen Rechtsextreme, wie Friedrich es macht, das reicht nicht.

Was waren für Sie die Tiefpunkte der Integrationsdebatte?

Ein erster Tiefpunkt war mit Sicherheit der Anwerbestopp von 1973, den die sozial-liberale Bundesregierung ohne irgendwelche flankierende Maßnahmen verhängte. Sie stellte die Menschen vor die Entscheidung: bleiben oder gehen. Damit wurde der ohnehin laufende Wandel von Arbeitswanderern zu Einwanderern beschleunigt. Damals hätte man bereits Integrationskurse einführen müssen, aber die kamen erst 2005 – bei uns kommt in Sachen Migrations- und Integrationspolitik fast alles 25 Jahre zu spät. Die achtziger Jahre waren ein verlorenes Jahrzehnt. Der absolute Tiefpunkt waren natürlich 1992 und 1993 die Exzesse auf den Straßen, in Rostock, Mölln, Solingen und andernorts.

Und in Ihrer persönlichen Karriere?

Dass Schily mich bewusst nicht in die Unabhängige Kommission Zuwanderung berufen hat …

die bald nur noch Süssmuth-Kommission genannt wurde und der rot-grünen Regierung Vorschläge für das Zuwanderungsgesetz machen sollte …

… das war ein gezielter Affront, weil ich zuvor einen kritischen offenen Brief an Schily unterzeichnet hatte. Nachdem der Zuwanderungsrat, dessen stellvertretender Vorsitzender ich war, nach zwei Jahren wiederum einfach aufgelöst wurde, hatte ich die Idee zum Sachverständigenrat: ein Gremium aus der Bürgergesellschaft, das Politik öffentlich adressiert, ohne von ihr abhängig zu sein.

Die Publizistin Necla Kelek hat Sie als Vorsitzenden des Sachverständigenrats in der „FAZ“ mit dem Chef des Politbüros verglichen, das abweichende Meinungen unterdrückt. Hat Sie das getroffen?

Ach was. Aber Kelek hat mit ihren absurden Unterstellungen eine regelrechte Denunziationskampagne losgetreten. Für Internetpranger wie „Politically Incorrect“ war das ein gefundenes Fressen. Das Ergebnis waren Hassmails, Drohbriefe und sogar Morddrohungen. Bis vor einem halben Jahr schickte mir die Polizei zu Vorträgen wenn nötig Saal- oder Personenschutz.

Wie sind Sie eigentlich ursprünglich dazu gekommen, sich mit Einwanderung zu beschäftigen?

Ich habe meine Kindheit in einem winzigen hessischen Dorf bei meinen Großeltern verbracht. Aus diesem Dorf wanderten Freunde mit ihren Eltern nach Kanada aus. Dass da Leute freiwillig ihre Sachen packten, um nie mehr wiederzukommen, das hat mich als Kind sehr beschäftigt. In meiner Habilitation habe ich mich dann in den siebziger Jahren mit der Wanderarbeiterfrage im deutschen Kaiserreich beschäftigt und viele Parallelen zur damals aktuellen Debatte der Gastarbeiterfrage gesehen.

Sie haben die Erfolge der vergangenen zehn Jahre gelobt. In diese Zeit fallen auch die scharfe Islamdebatte, Sarrazin und die Mordserie des rechtsextremen NSU. Ein Widerspruch?

Man muss unterscheiden zwischen den konkreten Alltagserfahrungen in der Einwanderungsgesellschaft und dem geistigen oder ideologischen Überbau, der darüber wabert. Die Bürger haben den komplizierten Prozess des Zusammenwachsens von Zuwanderer- und Mehrheitsbevölkerung zur Einwanderungsgesellschaft ganz gut geschafft, und zwar weitgehend ohne politische Hilfestellungen. Und diese Erfahrung ist belastbarer als viele Politiker glauben.

Wie passt das zu Sarrazins Erfolg?

Weil es gleichzeitig ungeklärte Fragen und große Ängste gibt. In der Einwanderungsgesellschaft ist vieles im Fluss, dazu kommt der demografische Wandel. Die Gesellschaft verändert sich rasant, das macht vielen Menschen mentalen Stress. Politik sollte vorleben, den steten Wandel als Normalität zu begreifen. Doch das macht sie nicht, denn dazu braucht man gesellschaftspolitische Antworten und die haben viele Politiker nicht. Dass sich viele Politiker zunächst gegen Sarrazin gewandt haben, ohne sein Buch gelesen zu haben, lag ja nicht daran, dass sie seine Aussagen für falsch hielten, sondern dass sie Angst vor den Folgen hatten. Sie wussten, sie würden wehrlos sein, wenn eine politische Bewegung von Sarrazinos entstehen würde. Glücklicherweise ist inzwischen die Luft raus aus der Debatte. Das hat auch mit Oslo und Zwickau zu tun.

Sehen Sie da positive Nebeneffekte dieser furchtbaren Taten?

Der Massenmord in Norwegen und die Serienmorde der Neonazi-Zelle aus Zwickau haben viele aufgeschreckt. Sie haben gezeigt, dass die Täter zum Teil die gleichen Argumente und Motive hatten wie antiislamische Agitatoren, dass es also eine ideelle Brücke gibt zwischen der Wort- und der Tatgewalt. Interessant ist, wie unterschiedlich die Reaktionen in Norwegen und bei uns waren. In Norwegen hat die Politik mit einem demonstrativen Appell zu noch mehr demokratischer Geschlossenheit, zu noch mehr offensiver Akzeptanz von kultureller Vielfalt reagiert. In Deutschland hat es nur zu Trauer und zur Wendung gegen Rechtsextremismus gereicht. Wo war das klare Bekenntnis, dass Antiislamismus ein Angriff auf kulturelle Toleranz und sozialen Frieden ist? Das gab und gibt es bis heute nicht.

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