Forschung zu KZ-Gedenkstätte: Aus Ellrich gab es kein Entrinnen
Jahrzehntelang war das KZ Ellrich-Juliushütte zwischen Niedersachsen und Thüringen fast vergessen. Jetzt wird seine Geschichte erforscht.

An diesem Tag führt er über das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Ellrich-Juliushütte. Große Teile des Areals an der Grenze von Niedersachsen und Thüringen sind bewaldet und als Naturschutzgebiet ausgewiesen, mehrere Wanderwege kreuzen sich hier. Gegenüber, hinter den Gleisen und schon auf dem thüringischen Boden, liegt der kleine Bahnhof Ellrich – dort halten stündlich die Züge der Südharzstrecke.
Auf dem früheren KZ-Gelände selbst haben nur wenige Bauwerke die vergangenen Jahrzehnte überdauert. Eines der wenigen verbliebenen markanten Objekte ist die Ruine des ehemaligen Küchentraktes. Auch weil weitere sichtbare Relikte fehlen, war die Existenz des heutzutage weitgehend zerstörten Konzentrationslagers, eines Außenlagers des KZ Mittelbau-Dora, bis vor Kurzem in der Öffentlichkeit kaum bekannt.
Jetzt hat ein Forschungsteam erstmals einen Lageplan der Anlage erstellt und die Ergebnisse in einem Buch festgehalten. Die Arbeit erfolgte im Auftrag der Landesdenkmalämter von Niedersachsen und Thüringen, die Wissenschaftler werteten historische Quellen aus, untersuchten den Boden und nahmen vereinzelt auch selbst Grabungen vor.
Wissenschaftler fanden Standort eines Massengrabs
Der Plan dokumentiert den baulichen Stand des KZ kurz vor der Räumung im April 1945. So konnten erstmals der genaue Verlauf des Lagerzauns und die Position der Wachtürme nachvollzogen werden. Ebenfalls identifizierten die Wissenschaftler neben den exakten Standorten der meisten Gebäude auch zwei Areale, in denen die sterblichen Überreste der Opfer abgelegt wurden.
Im letzten Monat des Lagerbetriebs hatte die SS im Krematorium und auf Scheiterhaufen bis zu 1.000 Leichen von Häftlingen verbrannt. Vom Krematorium waren bisher nur noch alte Fotos vorhanden.
Das Konzentrationslager Ellrich-Juliushütte hatte den Decknamen „Erich“ und bestand nur ein Jahr. Die ersten entkräfteten und aus Mittelbau-Dora abgeschobenen Häftlinge, das geht aus Quellen hervor, wurden in die Gebäude einer aufgegebenen Gipsfabrik getrieben und mussten auf dem nackten Betonboden schlafen. Und sich tagsüber bei kräftezehrenden Arbeiten etwa beim Gipsabbau im dem Harz vorgelagerten Kohnstein buchstäblich zu Tode schuften.
Not, Tod und Elend auf engstem Raum: Hunger, Kälte und Krankheiten ließen die Sterbeziffer in dem fast durchgängig mit 8.000 Häftlingen überbelegten Lager dramatisch ansteigen.
Nach 1945 überlagerten Ost-West-Konflikte die Geschichte
Lagerkommandant in Ellrich-Juliushütte war SS-Hauptsturmführer Karl Fritzsch. Er hatte sich gerühmt, zuvor in Auschwitz Tausende Häftlinge eigenhändig umgebracht zu haben. Bei den Neuankömmlingen im KZ kursierte der Spruch: „Kamerad, überall hast du eine Chance zum Überleben. Aber kommst du nach Ellrich, so gibt es kein Entrinnen.“
Nach dem Zweiten Weltkrieg überlagerten die deutsche Teilung sowie wechselseitige Schuldvorwürfe von Ost und West eine Auseinandersetzung mit der Lagergeschichte. Das ehemalige KZ-Gelände in den Gipsfabriken wurde von der deutsch-deutschen Grenze durchschnitten. Auf östlicher Seite begannen DDR-Grenzer schon 1952, ehemalige Lagergebäude abzutragen. Die auf westlicher Seite erhaltenen Bauten, darunter das Krematorium, sprengte der Bundesgrenzschutz 1964.
Angestoßen wurde das thüringisch-niedersächsische Forschungsprojekt durch die Entdeckung eines lange Zeit unbekannten Massengrabs auf dem Gelände. Engagierte Bürgerinnen und Bürger drängten darauf, den Ort zu einem Gedenk- und Lernort zu entwickeln. Dafür habe er jedoch zunächst wissenschaftlich erforscht werden müssen, sagen die Behörden. Inzwischen sei die archäologische Suche nach den Gebäuderesten abgeschlossen. Darauf aufbauend könne der Einstieg in die Konzeption eines Gedenkortes beginnen.
„Die meisten Todesopfer hier waren Franzosen“, erzählt Knolle. Anders als in Deutschland, wo seine Existenz lange Zeit kaum bekannt war, spielt das KZ Ellrich-Juliushütte in der französischen Erinnerungskultur eine große Rolle. Jedes Jahr am 6. April, dem Jahrestag der Befreiung des Lagers, legen Überlebende und ihre Nachkommen aus Frankreich auf dem Gelände Kränze und Blumen nieder.
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