Forschungsskandal in Schweden: Doktor Frankensteins Luftröhren

Einem einst gefeierten Stammzellforscher vom Karolinska-Institut wird vorgeworfen, Forschungsergebnisse gezinkt zu haben.

Der Chirurg Paola Macchiarini an er Uni versität von Florenz (2010)

Galt als einer der Pioniere der regenerativen Medizin: Paolo Macchiarini (Archivbild von 2010). Foto: imago/Granata Images

STOCKHOLM taz | Schwedens Karolinska-Institut glaubte den großen Coup gelandet zu haben. 2010 warb die Medizinuniversität, die zu den weltweit angesehensten gehört und deren Nobelversammlung jährlich die Medizinnobelpreisträger bestimmt, den italienischen Chirurgen Paolo Macchiarini an: als Gastprofessor und Arzt, der der traditionsreichen Institution zu neuem Ruhm verhelfen sollte.

Das schien zu gelingen. Von einer „OP-Sensation“ schrieb 2013 der Spiegel und der TV-Sender Arte kündigte eine Macchiarini-Dokumentation als „Stück Science-Fiction“ an: „Wissenschaftler entnehmen Stammzellen aus der Hüfte einer Patientin, stellen ein künstliches Organ für sie her und retten ihr damit das Leben.“ Mittlerweile läuft Macchiarinis Methode, eine künstliche Luftröhre aus Nanofasern mit körpereigenen Stammzellen zu beschichten und Patienten mit unheilbaren Luftröhrenschäden einzuoperieren, unter dem Stichwort „Forschungsskandal“.

Ohne vorherige Operationen an Versuchstieren und obwohl noch kein Chirurg derartige Eingriffe vorgenommen hatte, experimentierte Macchiarini gleich mit Menschen. Schon nach der Operation des ersten Patienten im Juni 2011, bei dem an Luftröhrenkrebs erkrankten Eritreaner Andemariam Beyene, ließ er sich als Pionier feiern. Karolinska rühmte sich in einer Pressemeldung der „einzigartigen Methode“ und behauptete, ebenso wie ein Artikel Macchiarinis in der Medizinzeitschrift The Lancet, schon fünf Monate nach der Operation: Die Luftröhre von Beyene habe sich fast vollständig neu gebildet. Der Chirurg startete bald eine Zusammenarbeit mit einem US-Medizinunternehmen. Das warb 2014 unter Hinweis auf einen lukrativen Markt und ein „kapitaleffizientes“ Geschäftsmodell mit jährlich geschätzt 7.700 solchen Operationen um Investoren.

Da war Beyene nach langem Leiden und dauerhaften Komplikationen bereits seit Monaten verstorben. Ärzte fanden eine teilweise kollabierte und verstopfte Plastikröhre und keine Spur von dank der Stammzellen neugebildetem Gewebe. Von acht operierten Patienten starben sechs und im Juni 2014 zeigten vier Karolinska-Ärzte Macchiarini wegen Fälschung von Forschungsresultaten an. Vorwurf: In sechs von ihm veröffentlichten Artikeln seien die Ergebnisse der Operationen falsch dargestellt worden.

Späte Reaktionen

Die Verantwortlichen beim Karolinska-Institut reagierten nicht. Sprachen Macchiarini auch noch ihr Vertrauen aus, nachdem im Mai 2015 ein externer Gutachter zum Ergebnis „Unredlichkeit in mehreren Fällen“ gekommen war und ein erster TV-Bericht in Schwedens öffentlich-rechtlichem Fernsehen SVT anfing, den ganzen Skandal aufzudecken. Das änderte sich erst, nachdem die US-Zeitschrift Vanity Fair im Januar Macchiarini als notorischen Lügner beschrieb und Zweifel an seinem Lebenslauf und den behaupteten Meriten weckte. Fast gleichzeitig strahlte der SVT eine aufwändige dreiteilige Dokumentation über den Fall aus.

Karolinska wollte ganz einfach an „Dr. Frankenstein“ – wie sich Macchiarini scherzhaft selbst bezeichnete – glauben und habe auf bahnbrechende Ergebnisse gehofft, meint der Doku-Verfasser Bosse Lindquist: Es gebe einen Wettbewerb zwischen den medizinischen Forschungseinrichtungen, gepaart mit „institutioneller Arroganz“. Macchiarini wurde nicht gekündigt, aber seine Anstellung, die im November ausläuft, wird nicht verlängert. Und es gibt Forderungen, die Karolinska-Führung auszuwechseln. Urban Lendahl, Professor am Karolinska-Institut, der einst Macchiarini empfohlen hatte, zog bereits erste Konsequenzen: Er trat als Generalsekretär des Nobelpreiskomitees für Medizin zurück.

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