Fotograf Thomas Henning über Großstadtleben: „Man war damals grantig"

Thomas Henning hat in den 70er und 80er Jahren das Hamburger Straßenleben fotografiert. Wie hat sich das öffentliche Leben seither verändert?

Straßenszene auf der Reeperbahn um das Jahr 1975. Bild: Thomas Henning

taz: Herr Henning, in Ihren Büchern mit Fotos aus den 70ern und 80ern wirkt die Großstadt ruhig, gemütlich und richtig nett. War damals alles besser?

Thomas Henning: Es war anders.

Inwiefern?

Es war einfacher, überschaubarer. Es war alles logischer und man verstand die Sachen besser. Beim Fotografien zum Beispiel: Da musste man die Blende einstellen, die Zeit und die Belichtung messen – und scharf stellen vor allem. Außerdem hatte man immer etwas mitzuschleppen, es war also richtige, anerkannte Arbeit. Und nicht kreative Selbstverwirklichung.

Oft sieht Hamburg auch menschenleer aus.

Natürlich war die Stadt nicht so leer. Auf der Mönckebergstraße war es voll und auf der Reeperbahn war es voll. Es gab auch Zeiten, da war es im Schanzenviertel auf dem heute so bekannten Schulterblatt voll. Auch morgens: Wenn die Leute zum Schlachthof gingen, zu den vielen kleinen Kneipen, wo es Schnittchen gab und Bier und Korn. Es gab damals nicht so viele Leute, die als Touristen ins Schanzenviertel kamen oder es besuchten, weil sie es so toll fanden, obwohl sie hier nichts zu tun hatten. Man war auch viel drinnen, weil draußen gab es nichts zu sehen.

geboren 1952 in Lübeck, wuchs in Hamburg und an der Ostsee auf. Mit 23 zog er ins Schanzenviertel, wo er bis heute lebt.

Er studierte Kommunikationsdesign an der Hamburger HFBK, machte sich als Fotograf und Grafiker selbstständig. Nach Ausflügen in die Straßenfotografie wechselte er in die Entwicklung von Zeitschriften und Magazinen.

Seine Bücher erscheinen im Hamburger Junius Verlag. Zuletzt: "Straßenfotos. Hamburg um 1975", 112 S., 24,90 Euro. "Schanze, 1980" (2011) ist derzeit vergriffen.

Die Bedienung kommt an unseren Tisch, fragt sehr höflich, ob wir den frisch gepressten Orangensaft in 0,2 Liter oder 0,4 Liter haben wollen und ob der Espresso mild oder kräftig geröstet sein soll.

Und eine freundliche Bedienung gab es auch nicht. Man war kurz angebunden, man war grantig, ob es nun im Café war oder im Wartesaal erster Klasse im Hauptbahnhof, wo es noch die gute, selbst gemachte Ochsenschwanzsuppe gab.

Das Szeneviertel Schanze, wie wir es heute kennen, gab es noch nicht?

Es gab eine Szene. Es gab die jungen Maler, die jungen Wilden, die in der Fettstraße wohnten. Es gab das „Vienna“, die Keimzelle der Schanzenkultur. Das Künstlerhaus in der Weidenallee, entstanden in einer alten Schraubenfabrik, war eher besetzt. „Gentrification“ war ein Wort aus Amerika, da hat man sich nach gesehnt! Man wollte eine Wohnung bekommen, die ein Bad und eine vernünftige Heizung hatte und die einigermaßen hell und trocken war.

Hatte man Konkurrenz?

Es gab auch damals auf St. Pauli oder in der Schanze Schlangen bei Wohnungsbesichtigungen, weil die Wohnungen einigermaßen billig waren, und sie waren billig, weil die Leute bereit waren, Geld reinzustecken. Die Problematik war eine ganz ähnliche wie heute: Besonders die jungen Leute wollten nicht draußen am Stadtrand wohnen, sondern mitten in der Stadt, besonders wenn man hip sein wollte.

Wie sind Sie eigentlich zur Fotografie gekommen?

Ich weiß gar nicht, ob ich das erzählen soll, aber ich hatte einen Milch- oder Kaffeebecher, da war so’n comicartiger Bär drauf. Und dieser Bär hatte eine Kamera umhängen, und er hatte ein Auto. Irgendwie haben mich Bücher, Autos und Kameras immer begleitet. Mich hat dann eine Frau fotografiert, ich in so einem Trenchcoat, die hat dann das Bild meiner Mutter verkauft und ich war total fasziniert, wieso ich da auf einmal auf dem Bild zu sehen war. Später habe ich mit der Agfa-Klack meiner Mutter die ersten, frustrierenden Versuche gemacht – frustrierend, weil sowohl die Kamera als auch ich nicht gut genug waren.

Wie wurde daraus ein Beruf?

Fotografie gab es noch nicht als Studienfach, also habe ich in Hamburg Grafikdesign studiert, aber in Kombination mit Zeitschriftendesign, also Layout. Das war ein recht gutes Studium. Ich habe damals Tiefdruckmagazine entwickelt, die heute fast ausgestorben sind, wie das Zeit-Magazin. Anschließend musste ich zur Bundeswehr, und da bleibt ja nicht so viel, was du in deine Taschen tun kannst, bei mir war das halt meine Kamera. Ich fühlte mich dort total einsam – und die Kamera war das einzige, was ich hatte. Ich hab dann überall auf Bahnhöfen, überall, wo Kneipen waren, die Leute fotografiert.

Was auffällt: Die Menschen auf der Straße haben sich offenbar bereitwillig von Ihnen fotografieren lassen. Gab es da keine Probleme?

Es war einfach, die Leute zu fotografieren. Die waren stolz, die haben sich gefreut, wenn man sie ablichten wollte. Das Recht am Bild hat niemanden interessiert. Keiner hat gewusst, dass es so etwas gibt, ich auch nicht. Dieses juristische Halbwissen war noch nicht verbreitet. Das änderte sich etwa ab 1969, 1970 – mit den Demos.

Und dann?

Da kramten Polizisten wie Demonstranten plötzlich diesen Artikel aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch hervor und setzten ihre Anwälte in Bewegung, um ihr Recht am eigenen Bild durchzusetzen. Nach Hausbesetzungen bekamen wir Fotografen plötzlich Besuch von der Staatsanwaltschaft, die versuchte, an Fotobeweise zu gelangen. Und es gab Sticker wie „Ihr nennt euch Fotografen, aber ihr seid nur Verräter!“

Sie sind von der amerikanischen Sozialfotografie beeinflusst worden.

Unser Blick nach Amerika war anders, war viel positiver als heute. Ich persönlich hab schon immer besondere Ami-Turnschuhe getragen, hab immer versucht eine 501-Jeans zu bekommen und mein Auto hatte natürlich eine Heckflosse. Wir haben uns amerikanische Filme angeschaut, und wenn wir aus dem Kino kamen, waren wir Teil des Films, den wir gerade gesehen hatten. Die Farbigkeit, die Ästhetik des amerikanischen Films, aber auch der Fotografie hat mich geprägt. Diane Arbus war für mich ganz wichtig. Die Gruppe Blende 64, der Fotograf Ralph Gibson mit seinen grobkörnigen Ausschnitten oder jemand wie Bruce Davidson, der ein Jahr in der Bronx gelebt hatte, um die Leute dort zu fotografieren. Das alles hatte ich im Hinterkopf, als ich durch Altona, St. Pauli oder die Schanze lief, auch wenn ich natürlich wusste, dass man hier in Hamburg nicht so fotografieren kann wie in New York.

Wie muss man sich Ihr Flanieren als Fotograf vorstellen?

Ich bin oft losgegangen, wenn ich kein Geld hatte – meist kein Geld für Sprit –, und wenn ich ein bisschen sentimental gestimmt war. Die besten Fotos habe ich gemacht, wenn es mir gar nicht so gut ging. Die Ernsthaftigkeit, mit der heute die Leute Fotos machen, um sie in irgendwelchen Social Media zu posten oder sie auf die eigene Webseite zu stellen, um sich von anderen abzugrenzen: Da geht vieles verloren, was nicht den eigenen, egoistischen Bedürfnissen dient. Es geht verloren, weil die Leute mit der Optimierung ihres eigenen Lebens beschäftigt sind. Das sage ich nicht, weil ich älter bin, sondern weil ich das auch an mir entdecke: Ich sitze plötzlich da und tippe auf meinem iPad herum, statt mir die Umgebung anzuschauen. Ich bin aber noch nicht soweit, dass ich mit dem iPad herumlaufe und fotografiere!

Haben Sie damals gar keine Prominenten fotografiert?

Fotografiert habe ich sie, für die Petra, für die Vogue, für Esquire. Aber die Halbwertzeit von Prominentenfotos ist extrem kurz. Heute kennt man sich nicht mehr oder es bleibt bei einem: „Ach, schau mal, wie der damals aussah!“ Über die Jahre verschieben sich die Themen oder auch nur die Anlässe: Ich hab mal einen norwegischen Reeder vor seinem Schiff fotografiert, auf das der sehr, sehr stolz war. Heute denkst du: Da steht ein Mann vor einem kleinen Schiff – ja, und? Okay, ich habe noch einige Fotos von John Irving, die sehr gut sind. Aber die Namenlosen zu fotografieren, finde ich noch immer spannender. So wie ich nur in einer Umgebung leben mag, in der ich auch fotografieren mag.

Was würden Sie jemandem raten, der heute fotografieren will?

Alleine ohne Handy, ohne Smartphone durch eine Stadt zu laufen, das ist das Wichtigste. Dann entstehen vielleicht wieder Bilder, mit denen man der Welt nah kommt. Ich versuche das gerade selbst: Ich habe von meiner Nichte eine wunderbare Rolleiflex geschenkt bekommen. Nun muss ich erst mal gucken, ob die überhaupt gut funktioniert. Aber dann werde ich versuchen, wieder in Schwarz-Weiß zu fotografieren – mit der Langsamkeit von damals. Vielleicht gelingt es mir, vielleicht gelingt es mir nicht. Es ist ein echtes Experiment.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.