Fotografin über US-Opioidkrise: „Wir leben in gefährlichen Zeiten“

Die einst schmerzmittelabhängige Fotografin Nan Goldin nahm den Kampf gegen die Pharma-Unternehmerfamilie Sackler auf. Ihr Engagement zeigt Wirkung.

Nan Goldin

„Das ist so böse“: Fotografin Nan Goldin Foto: imago images/Skata

taz: Nan Goldin, wie schätzen Sie die aktuelle Lage in den USA ein? Hat sich die Opioidkrise etwas entspannt?

Nan Goldin: Vor Kurzem hieß es, die Anzahl der Menschen, die an einer Überdosis starben, sei zum ersten Mal seit den 1990ern leicht zurückgegangen. Eine Entwarnung ist das jedoch nicht. Der Drogenkrieg in den USA ist leider massiv. Da die Ärzte mittlerweile weniger Schmerzmittel verschreiben, haben viele Menschen keinen Zugang mehr zu ihrer Droge. Sie besorgen sich dann Fentanyl, eine Droge, die auf der Straße gehandelt wird und die relativ billig und extrem stark ist. Menschen, die lange auf Heroin gelebt haben, sterben auf einmal. Wir müssen das entkriminalisieren.

Kurz nach unserem ersten Gespräch, im März 2018, haben Sie im Metropolitan Museum in New York die erste Aktion gegen die Sacklers gestartet. Was haben Sie dort gemacht?

Die Sacklers haben im Met einen großen Flügel, in dem ein von Wasser umgebener alt­ägyptischer Tempel mit riesigen Statuen steht. Dieser Ort schrie nach einer Demonstration. Wir haben Tausende Flaschen hineingeschmuggelt. Auf deren Etikett stand: „Verschrieben von den Sacklers, abgefüllt von Purdue Pharma“. Über 100 Menschen haben diese Flaschen ins Wasser geworfen. Es sah fantastisch aus. Was wir machen, ist immer sexy. Auf unseren Bannern stand, dass die Sacklers sich schämen sollten und dass 200 Menschen pro Tag sterben. Wir sind mit Sprechchören durchs Museum marschiert und haben eine Pressekonferenz auf den Stufen abgehalten.

Viele ähnliche Aktionen in weiteren Museen folgten. Wie reagieren die Menschen vor Ort darauf?

Ich möchte keine Aktionen nur für die Presse. Mir ist wichtig, dass Menschen da sind. Als wir im Met ein Die-in machten, fragte ein kleiner Junge seinen Vater: „Darf ich auch sterben?“ Dann hat er sich zu uns gelegt. Ich liebe es, wenn die Leute mitmachen. Nach einer Aktion im Harvard Art Museum sagten sogar die Sicherheitsleute zu uns, wir könnten jederzeit wiederkommen. Die meisten Amerikaner kennen jemanden, der oder die an einer Überdosis gestorben ist.

Auch bei den Museen haben Ihre Aktionen Eindruck hinterlassen. Eine ganze Reihe lehnt es inzwischen ab, von den Sacklers Geld zu anzunehmen.

In aller Bescheidenheit muss ich sagen, dass das nicht nur unser Verdienst ist. Es ist eine Kombination aus investigativem Journalismus, Justiz und Aktivismus.

Inwiefern fließen die Gerichtsverfahren, die momentan gegen die Sacklers laufen, in Ihren Protest ein?

Wir zitieren die internen Memos und E-Mails, die von den Gerichten veröffentlicht werden, zum Beispiel auf unsere Fake-Verschreibungen. In einer E-Mail von Richard Sackler aus dem Jahr 2001 stand: „Wir müssen auf diejenigen eindreschen, die es missbrauchen. Sie sind die Übeltäter und das Problem. Sie sind rücksichtslose Verbrecher.“ Oder als ihm ein Wissenschaftler erklärte, dass Leute begännen, Oxycontin zu missbrauchen, fragte er: „Wie sehr wird das unseren Profit verbessern?“

Wow.

Das ist so böse. Die Sacklers haben schreckliche Dinge gesagt. Diese Zitate sprechen für sich. Genau wie Project Tango.

Mehrere Jahre lang war sie selbst von Schmerzmitteln abhängig. Nach ihrem Entzug wurde Nan Goldin zur Aktivistin. In einem ersten Interview mit der taz sprach die Künstlerin im Februar 2018 über ihre Sucht, die Opiatkrise in den USA und die ihrer Ansicht nach dafür Verantwortlichen, die Eigentümerfamilie Sackler des Pharmaunternehmens Purdue, das seit den 1990ern Oxycontin produziert. Wenig später begannen Goldin und ihre Aktivistengruppe P.A.I.N. mit einer Reihe flash­mob­artiger Aktionen in Museen, die von den Sacklers unterstützt werden. Inzwischen laufen in mehreren US-Bundesstaaten Gerichtsverfahren gegen die Unternehmerfamilie, und auch Goldins Engagement hat direkte Wirkung gezeigt: Diverse Museen, darunter die Londoner Tate und das New Yorker Guggenheim, nehmen kein Geld mehr von den Sacklers an. Jetzt nutzte Goldin eine Reise nach Europa, um ihren Protest auf Europa auszuweiten: Vergangene Woche demonstrierte sie im Pariser Louvre vor der Glaspyramide und forderte, den Namen Sackler aus dem Museum zu verbannen. Das Gespräch fand in Hannover statt, wo Goldin den Ruth-Baumgarte-Preis für ihr Lebenswerk entgegennahm. (bsh)

Was ist das?

Ein Buprenorphin, ein hochwirksames Substitutionsmittel. Project Tango war ihre Idee, aus der Sucht der Menschen Profit zu schlagen.

Haben sich die Sacklers inzwischen bei Ihnen gemeldet?

Ich hatte mit keinem von ihnen Kontakt, habe aber gehört, dass sie sehr besorgt seien und New York verlassen hätten. Sie seien nach Palm Beach gezogen und fühlten sich zu Unrecht beschuldigt. Es ist unglaublich. Wie können sie immer noch denken, sie seien die Opfer trotz überwältigender Beweise? Obwohl jeder sie für schuldig hält und sogar ihr Hedgefonds nicht mehr mit ihnen arbeitet?

In der ersten Version Ihrer Petition haben Sie die Sacklers aufgefordert, Geld an Entzugseinrichtungen zu spenden. Das tun Sie nun nicht mehr, warum?

Es ist wie bei diesem Bupre­norphin. Sie würden versuchen, Profit daraus zu schlagen. Wir wollen ihr Geld nicht.

Museen brauchen aber auch Geld von privaten Spendern.

Ganz besonders in den USA. Museen sind aber in der Pflicht, ihre Spender zu überprüfen. Sie müssen Verantwortung dafür übernehmen, wo das Geld herkommt. Und es geht nicht nur um Spenden, sondern auch um die Leute, die im Aufsichtsrat sitzen. Die Sacklers waren bis vor wenigen Jahren im Aufsichtsrat des Guggenheim. Die Serpentine Gallery hat gerade eine Frau namens Yana Peel entlassen, die Miteigentümerin einer israelischen Spyware-Firma ist. Am Whitney Museum gibt es Proteste gegen Warren Kander, der sein Geld mit Tränengas verdient, das an der mexikanischen Grenze eingesetzt wird, am MoMa gegen Larry Fink, dem CEO von Blackrock.

Wo würden Sie die Grenze ziehen?

Ich denke nicht, dass das schwierig ist. British Petroleum Oil, die die National Portrait Gallery finanziell unterstützen, fördern den Klimawandel. Die Opioidkrise hat 700.000 Amerikaner getötet. Daran ist nichts Abstraktes. Es gibt klare Linien, die wir ziehen müssen.

Sie haben gerade den Ruth-Baumgarte-Preis für Ihr Lebenswerk erhalten, was bedeutet das für Sie?

Ich finde es großartig, diesen Preis zu erhalten, und toll, dass er meist an ältere Frauen geht. Das ist sehr wichtig. Der Prozentsatz an Künstlerinnen, die finanziellen Erfolg haben, ist sehr klein. Es gibt immer noch Galerien, die nur Männer zeigen.

Im Vorfeld der Preisverleihung schrieb der „Spiegel“ darüber, dass die Galerie des Sohns von Ruth Baumgarte, der auch Stiftungsvorsitzender ist, Leni Riefenstahl repräsentiere. Der Artikel berichtete von Diskussionen, die Sie daraufhin mit der Stiftung führten. Was hat Sie davon überzeugt, den Preis dennoch anzunehmen?

Ich wusste nichts davon, bis mir die Spiegel-Journalistin davon erzählt hat. Ehrlich gesagt hatte ich das Gefühl, es ging ihr hauptsächlich um ihre Geschichte. Die Art und Weise, wie Leni Riefenstahl auf der Website beschrieben wurde, war aber tatsächlich unglaublich. Sie wurde dort eine große Künstlerin genannt, die viele Preise gewonnen habe, dabei war sie die wichtigste Propaganda-Künstlerin der Nazis. Ich habe mit der Stiftung gesprochen und Leni Riefenstahl wurde von der Website genommen. So konnte ich den Preis akzeptieren.

Die Frage, wie man mit rechten Künstler*innen umgeht, wird derzeit in der Kunst heiß diskutiert. Manche Leute sind der Ansicht, man sollte das Werk von dem oder der Künstler*in trennen …

Niemals! Wie kann man das Werk von der Person trennen, die es macht? Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Leute fragen mich oft, ob ich es in Ordnung fände, Kunst zu zensieren, aber darum geht es nicht. Ich glaube nicht an Zensur. Bestimmte Dinge sind verwerflich und gefährlich. Wir leben wirklich in gefährlichen Zeiten.

Sind Künstler*innen auf ­besondere Weise in der Pflicht, ihre Stimme zu erheben?

Jede*r sollte seine Stimme ­erheben. Ich glaube, in ­unserer heutigen Zeit können wir nichts tun, außer unsere ­Körper auf die Straße bringen und ­protestieren. Das ist unsere ­einzige Hoffnung.

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