Französische Literatur: Die Kronzeugin

Mit „Die Scham“ ist ein neuer Band von Annie Ernaux’ autobiografisch-soziologischer Prosa erschienen. Warum können sich gerade alle auf sie einigen?

Frau im Sessel vor Bücherwand

Findet unsentimentale Worte für sentimentale Menschen: Annie Ernaux Foto: Isabelle Eshraghi/NYT/Redux/laif

Es ist ein bisschen kurios. Um die Wut im eigenen Land zu verstehen, die Unzufriedenheit der „einfachen Leute“, schaut man in Deutschland seit ein paar Jahren in die französische Provinz, in die Häuser der Fabrikarbeiter und Lädchenbesitzer, und zwar besonders gern durch die Augen von Annie Ernaux.

Die Geschichte der 80-jährigen Autorin ist der Aufstiegskampf eines Arbeiterkindes aus der Normandie. Nach dem Besuch der Privatschule arbeitet sie als Lehrerin und wird als Autorin im Frankreich der 80er-Jahre schließlich zu einer Art literarischem Pendant zu Pierre Bourdieu, der in seinem Soziologie-Standard „Die feinen Unterscheide“ herleitete, was Ernaux in ihrer Prosa eindrücklich beschrieb: Du kriegst das Mädchen raus aus dem Prekariat, aber du kriegst das Prekariat nicht raus aus dem Mädchen.

Annie Ernaux: „Die Scham“. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp, Berlin 2020, 110 Seiten, 18 Euro

Vor Kurzem ist mit „Die Scham“ ein weiterer Band von Ernaux’ Prosa, die Autobiografie und (Zeit-)Geschichtsschreibung verbindet, auf Deutsch erschienen. Das Interesse an ihr ist ziemlich neu: In Deutschland wurde Ernaux kaum gelesen, bis der Soziologe Didier Eribon sie dem Publikum in seinem autobiografischen Sachbuch „Rückkehr nach Reims“ als seine Meisterin vorstellte. Die Verlage Fischer und Goldmann hatten Ernaux schon früher übersetzt, aber die Bücher liefen nicht gut – was im Falle von Goldmann vielleicht an der irritierenden Groschenroman-Optik des Titels lag.

Messerblock und schmutzige Nachtwäsche

Im Zuge des Eribon-Hypes wagte Suhrkamp 2017 noch einen Anlauf und brachte „Die Jahre“ heraus, eine Art short guide to Annie Ernaux, Schlüssel zu ihrem experimentellen Schreiben und Erinnern: Ernaux nähert sich ihrem Leben in Schnappschüssen oder Fragmenten, die oft mehr beschreiben als erläutern, als literarische Collagen aber wirkmächtiger sind als das protzigste Zeitgemälde.

Jedes weitere seither erschienene Buch, allesamt neu übersetzt von Sonja Finck, zoomt tiefer in einen anderen Bereich ihres Lebens hinein: „Eine Frau“ etwa erzählt die Geschichte ihrer Mutter, „Der Platz“ die ihres Vaters.

Der in Frankreich schon 1996 erschienene Text „Die Scham“ beginnt mit einem Hammerschlag, mit der betont nüchternen Beschreibung des Ereignisses, das ihre Familie fast ausgelöscht hätte: „An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen.“ Auf wenigen Seiten handelt sie schließlich ab, was sich am 15. Juni 1952 ereignet: Ernaux’ Eltern geraten am Esstisch in Streit miteinander, der Vater zieht ein Beil aus dem Messerblock, es gibt Tränen, Geschrei – aber schließlich doch kein Blut. Der Vater lässt von der Mutter ab, im Anschluss unternehmen sie eine Radtour aufs Land. Über den Vorfall werden sie nie wieder sprechen.

Erst 44 Jahre später kann Ernaux rekonstruieren, wie die Scham über sie kam: die Scham darüber, nun hochoffiziell zu einer Familien zu gehören, die roh und gewöhnlich ist, gegen die Sittlichkeitsregeln ihrer Gemeinschaft verstößt, einen groben Dialekt pflegt und schmutzige Nachtwäsche trägt. Diese Disruption wird für sie zum Anlass, sich vom eigenen Milieu zu entfremden. Ernaux beschreibt, wie sie Jahre später das Zeitungsarchiv ihrer Heimatstadt durchsucht und überrascht ist, keine Lokalmeldung über den versuchten Mord zu finden: Was sie als Wendepunkt und Trauma ihres Leben empfand, scheint die Welt nicht mitbekommen zu haben.

Weil Ernaux weiß, dass die Witterung an einem bestimmten Tag für das Erinnern genauso wichtig ist wie die politische Großwetterlage, ziehen auch in „Die Scham“ wieder Wolken vorbei, wieder scheiden sich Milieus an Artefakten wie Brillen, Blusen und Strümpfen, während sich die Welt um Ernaux wandelt. Geschichte passiert nur im Abgleich mit sich selbst, formt aber zugleich – anders als bei vielen Ich-Schreibern – unablässig das Studienobjekt Ernaux.

Ihr später Erfolg in Deutschland hat viel mit Timing zu tun

Obwohl ihre Sprache oft als unsentimental beschrieben wird, ist Ernaux unbedingt eine Autorin für sentimentale Menschen. Wenn sie auflistet, welche Begriffe sie 1952 zum Träumen brachten – „die Königin von Golkonda, der Boulevard der Dämmerung, Icecream, Pampa“ -, erklärt sie trotzdem nicht nur Befindlichkeiten; stattdessen beschreibt sie, was in der Welt eines französischen Arbeitermädchens in den 50ern denk- aber nicht greifbar war.

„Mir ist es wichtig, die Worte wiederzufinden, mit denen ich damals über mich selbst und die Welt nachdachte“, schreibt sie in „Die Scham“. Die demonstrative Demut der „Ethnologin ihrer selbst“, wie sie sich selbst beschreibt; ihre Reflektionen über die Prozesshaftigkeit des Erinnerns und die hohe Wahrscheinlichkeit des Scheiterns wirken wundersamerweise selten kokett.

Ernaux’ später Erfolg in Deutschland hat viel mit Timing zu tun. Der Soziologe Franz Schultheis sagte neulich im Interview mit der Zeitung Jungle World, dass die deutsche Mainstream-Soziologie vor vier Jahrzehnten – als Ernaux in Frankreich längst zum Standardrepertoire gehörte – just das Ende der Klassengesellschaft feierte. Heute hingegen scheine man sich angesichts wachsender Ungleichheit beim Zugang zu allen Formen an Lebenschancen zu besinnen, dass der „Fahrstuhl nach oben“ eben doch nicht alle mitnimmt. Der Boom der Milieuerklärungsbücher, seien es die Texte von Annie Ernaux, Eribon oder dessen Schüler im Geiste Édouard Louis, kann man dem (wieder-)erwachenden Interesse an sozialen Frage zuschreiben.

Und dieses Interesse wirft auch in Deutschland gerade ziemlich viele Veröffentlichungen ab. Schon vor sechs Jahren berichtet die Autorin Undine Zimmer, die heute in einem Jobcenter arbeitet, in ihrem autobiografischen Buch „Nicht von schlechten Eltern“ vom Aufwachsen mit Hartz IV. Die Schriftstellerin Daniela Dröscher habe „Rückkehr nach Reims“ mit „glühenden Ohren“ gelesen, um in ihrem Buch „Zeige deine Klasse“ von 2018 schließlich zu beschreiben, dass man offenbar auch als Tochter einer Kleinbürger- statt Arbeiterfamilie Eribon’sche Komplexe mit sich herumtragen kann. Christian Barons autobiografischer Roman „Ein Mann seiner Klasse“ und Anna Mayrs Sachbuch „Die Elenden“ aus diesem Jahr thematisieren das Aufwachsen im und mit dem Prekariat – hier sehr, dort weniger persönlich.

Kritiklos mit den Gelbwesten

Auch in Anke Stellings Roman „Schäfchen im Trockenen“ 2019 geht es um Klassenfragen, um den Übergang von einem PVC- zu einem Dielenbodenleben, und in Deniz Ohdes Debütroman „Streulicht“ wird sich an eine Jugend im westdeutschen Prekariat aus (post-)migrantischer Perspektive erinnert: an den Rassismus wie auch an die Räume voller Zigaretten- oder Shishapfeifen-Dunst.

Von niemandem aber kann man sich so präzise und analytisch, hochpersönlich und universell wie von Ernaux ein Milieu erklären lassen, das es in der von ihr dokumentierten Form nicht mehr gibt – aber trotzdem in der Autorin fortwirkt, obwohl die Bildungsaufsteigerin nicht mehr die verunglückte Dauerwelle von einst trägt. Der ganze Körper erinnert sich bei Ernaux, die Gedanken hingegen sind längst einmal um die Welt gereist.

Trotzdem bringt Ernaux bis heute mit, was viele wohl als Klassenbewusstsein beschreiben würden. Sie solidarisierte sich, wie auch Eribon, 2018 (sehr) kritiklos mit den Gelbwesten-Protesten in Frankreich, wettert regelmäßig gegen den Neoliberalismus des Präsidenten Macron und sagte mal im Interview mit der Süddeutschen Zeitung, sie sei keine Universal-Feministin, die glaube, alle Frauen hätten die gleichen Probleme: Auch unter Frauen könne es keine Gleichheit geben. Eine Wahrheit, die der liberale Feminismus eigentlich nicht gern hört.

Und so ist es eigentlich komisch, dass Ernaux in Deutschland, wo Klassenbewusstsein vielen suspekt ist, nicht skeptischer gelesen wird. Vielleicht treibt ihre Fans die Sehnsucht nach einer intellektuellen Armutserklärerfigur, nach einer Kronzeugin mit radikaler Stimme, deren Klang einem behagt, weil sie empathisch klingt, aber eben nicht mehr nach Provinz; weil sich Ernaux ihr früheres Milieu voller Zuneigung (und bei aller Scham auch manchmal: stolz) durch die Augen eines Mädchens erschließt, das eben diesem Milieu mit aller Kraft entkommen wollte – und eben auch entkam.

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