Frauenwahlrecht in Deutschland: Der Fortschritt ist eine Schnecke

100 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts wollen Frauen nicht noch weitere 100 Jahre auf Parität warten.

In einer Waage sitzen ein Mann und eine Frau, sie stecken einen Briefumschlag in eine Urne

Der Staat ist verpflichtet, für Parität zu sorgen Illustration: Katja Gendikova

Am 19. Januar 1919 war es endlich so weit: Vor genau 100 Jahren durften Frauen erstmals in Deutschland wählen. Mit über 80 Prozent Wahlbeteiligung drängten sie an die Wahlurnen.

Jahrzehntelang hatten die verschiedenen Flügel der Frauenbewegung für das Stimmrecht gekämpft, am 12. November 1918 war schließlich die rechtliche Grundlage dafür geschaffen worden. Ein Frauenanteil von knapp 9 Prozent in der Nationalversammlung war das Ergebnis der ersten historischen Wahl.

Die Sozialdemokratin und Sozialreformerin Marie Juchacz hielt die erste Rede einer Frau in einem deutschen Parlament, in der sie unter anderem die berühmten Worte sprach: „Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist.“

Was Frauenrechte angeht, ist leider gar nichts eine Selbstverständlichkeit – bis heute. In den einhundert Jahren, die seit diesen historischen Ereignissen vergangen sind, gab es noch nie ein paritätisch besetztes deutsches Parlament, weder auf Bundesebene noch auf Landesebene.

Das aktive und passive Wahlrecht, von Frauen erkämpft, bildet die Grundlage staatsbürgerlicher Partizipation. Formal gleiche Rechte führen aber nicht zu gleichen Chancen und Entfaltungsmöglichkeiten. Die Gleichstellung in allen Lebensbereichen ist noch längst nicht erreicht. Es gibt zwar eine Bundeskanzlerin, und die beiden aktuellen Koalitionsparteien auf Bundesebene werden von Frauen geleitet. Aber der Anteil der Frauen im aktuellen Deutschen Bundestag ist mit 30,9 Prozent auf den Stand von vor 20 Jahren zurückgefallen.

Noch gab es keine Bundespräsidentin

Noch schlechter sieht es in der Kommunalpolitik aus. Immer noch gibt es Ämter in der Politik, die noch nie eine Frau innehatte. Das sind zum Beispiel, neben dem des Bundespräsidenten, die einflussreichen Ressorts Bundesinnenministerium und Bundesfinanzministerium.

Der Fortschritt ist zudem eine Schnecke: Die magische Größe des Frauenanteils von fast 9 Prozent in der Nationalversammlung wurde in der Bundesrepublik erst bei den Wahlen zum 10. Deutschen Bundestag übertroffen. Das war im Jahr 1983, als die Grünen in das Parlament einzogen. Mit dem grünen Frauenstatut und der grünen Frauenquote schrieb die Partei Geschichte.

Überhaupt: Alle Parteien, die sich aktuell selbst Quotenregelungen für die Wahllisten geben (SPD, Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen), haben auch einen hohen Frauenanteil im Parlament. Parteien ohne eine solche Selbstverpflichtung (Union, FDP, AfD) fallen durch ihre starke Männerdominanz auf. Auch in der Politik gilt: Quoten funktionieren!

Deutschland steht in der Pflicht

Sogar die Vereinten Nationen mahnen: Im aktuellen Staatenberichtsverfahren zur UN-Frauenrechtskonvention wurde auf strukturelle Barrieren und Geschlechterstereotype als Ursachen für die geringe Partizipation von Frauen am öffentlichen Leben und bei politischen Entscheidungen hingewiesen. Deutschland ist völkerrechtlich und auch nach dem Grundgesetz verpflichtet, Maßnahmen zur Verwirklichung der gleichen Teilhabe von Frauen zu ergreifen.

Strukturelle Barrieren sind zum Beispiel Männernetzwerke, die Frauen von aussichtsreichen Kandidaturen abhalten oder sie bei ihren Kandidaturen schlicht niederstimmen. Oder Zeitstrukturen bei Politik im Ehrenamt, bei denen erst spät in der Nacht wichtige Entscheidungen getroffen werden. Ein häufiges Problem sind auch Kommunalparlamente, bei denen keine Kinderbetreuung für Sitzungszeiten zur Verfügung steht.

Geschlechterstereotype wie: Frauen interessieren sich nicht so für Politik oder haben kein Interesse an Macht und politischer Gestaltung, verhindern das Fördern weiblicher politischer Talente oder führen dazu, dass die Frauen selbst zögern, Verantwortung zu übernehmen.

Ohne Gesetze geht es nicht

Ein Ergebnis des jahrzehntelangen Kampfs für gleiche Rechte und gleiche Chancen für Frauen ist: Ohne Gesetze wird es nicht gehen.

Es gibt zwei rechtliche Wege, den Frauenanteil in den Parlamenten zu erhöhen. Direkte Maßnahmen im Wahlrecht – oder indirekte Maßnahmen, die bei den Parteien und ihren Strukturen ansetzen. In Brandenburg liegt derzeit ein Gesetzentwurf für ein Paritätsgesetz vor, für den sich eine rot-rot-grüne Mehrheit abzeichnet. In Anlehnung an das französische Modell wird vorgeschlagen, die Zahl der Wahlkreise zu halbieren und in den dann größeren Wahlkreisen jeweils Kandidatenduos (sogenannte binômes) aufzustellen, be­stehend aus einem Mann und einer Frau .

Ein nominiertes Wahlkreisduo kann, muss aber nicht gemeinsam gewählt werden. Jede Wählerin und jeder Wähler hat zwei Stimmen. Mit einer Stimme darf nur eine Kandidatin, mit der anderen Stimme darf nur ein Kandidat gewählt werden.

Dieses Gesetz würde einen Paradigmenwechsel einleiten. Viel gewonnen wäre bereits, wenn alle Parteien in ihren Satzungen Frauenquoten für die Besetzung politischer Ämter und Wahllisten vorsähen und diese dann auch konsequent umsetzen würden. Der Deutsche Juristinnenbund hat als Mindestanforderung formuliert, dass im Parteiengesetz eine Verpflichtung zur Frauenförderung verankert wird. Indirekte Anreize zur Schaffung eines entsprechenden Satzungsrechts wären möglich. Erfolgreich gelebte Frauenquoten im Parteisatzungsrecht könnten zum Beispiel im Parteienfinanzierungsrecht durch angemessene Bonuszahlungen belohnt werden.

Verfassungsrechtliche Bedenken

Gegen viele der genannten Vorschläge wurden bereits verfassungsrechtliche Bedenken geäußert. In einem Spiegel-Interview forderte der ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts, Udo Di Fabio, Frauen dazu auf, sich in Parteien zu engagieren, und formulierte Bedenken gegen Wahlrechtsänderungen und auch gegen Anreize in der Parteienfinanzierung. Eine Einflussnahme da­rauf, wer gewählt wird, sei ein unzulässiger Eingriff in das Wahlrecht, das allein regeln dürfe, wie gewählt wird.

Damit steht er nicht allein. Es fehlt im deutschen Staatsrecht bislang das Bewusstsein, dass eine gerechte Staatlichkeit nicht ohne gleiche politische Teilhabe der Geschlechter auskommt. Seit Jahrzehnten ist die deutsche Staatsrechtslehre, die sich mit der Auslegung der Verfassung befasst, stark männerdominiert.

Die Diskussion da­rüber, was gerechte Staatlichkeit ausmacht und wie sie die gleiche Partizipation von Frauen und Männern gewährleisten kann, steht dort auch im Jahr 2019 erst am Anfang. Das Thema wurde zu lange weitgehend ignoriert – vielleicht weil man die Erfahrung, ausgegrenzt und marginalisiert zu sein, in der Gesellschaft keine ausreichend repräsentierte Stimme zu haben, selbst gar nicht kannte.

Es geht um die Demokratie, die nur dann wirklich funktionieren kann, wenn ihre geschriebenen und ungeschriebenen Spielregeln nicht diskriminieren. Hinzu kommt, dass das Argument, die Frauen mögen sich eben mehr engagieren, ihnen die Verantwortung für ihre geringe Repräsentation zuschiebt. Hier geht es letztlich um die Verteidigung des Status quo. Es ist die Lehrbuchdefinition von Diskriminierung, der faktisch benachteiligten Gruppe die Verantwortung dafür qua (zugeschriebener) Eigenschaften oder Verhalten zuzuweisen und damit zu rechtfertigen.

Die Debatte muss jetzt geführt werden

Insofern sollte das Verfassungsargument nicht verwendet werden, um die dringend notwendige Debatte über Parität zu beenden. Denn diese Debatte muss jetzt geführt werden – so kann die Situation nicht bleiben. 100 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts wollen Frauen nicht noch weitere 100 Jahre auf Parität warten!

Auch die Parteien sind an Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes gebunden, der das Versprechen gibt: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Die politischen Parteien haben in unserer Demokratie die Schlüsselposition: Sie sind es, die die Angebote für die Wahlentscheidungen machen, die dann folgen. Wenn in den Parteien Strukturen dazu führen, dass Frauen chancenlos sind, muss der Staat handeln. Wenn wir nicht in das Wahlrecht selbst eingreifen, so muss die Verpflichtung zur Frauenförderung in das Parteienrecht hinein. Das Ziel muss es sein, Frauen auf aussichtsreiche Listenplätze zu bringen und sie in angemessener Zahl bei den Direktkandidaturen aufzustellen.

Es gilt, alle Möglichkeiten zu erörtern, um dem Ziel der Parität näher zu kommen. Am Ende müssen die strukturellen Hemmnisse für Frauen, in politische Ämter zu gelangen, vollständig beseitigt sein.

Allerdings verspricht nicht jedes Instrument oder jeder Quotenbeschluss auch Wirkung. Ein Beispiel ist die CDU in Sachsen, die 2019 am historischen Datum des 19. Februar ihre Landesvertreterversammlung abhält und sich auf die Landtagswahl vorbereitet. Dort sieht ein Landesvorstandsbeschluss vor, die ersten 20 Plätze des Listenvorschlags zu quotieren. (Warum nicht alle Listenplätze, fragt man sich?) Eine quotierte Liste wäre nicht nur schön, sondern dringend notwendig, weil in Sachsen in 60 Wahlkreisen nur 8 Frauen als Direktkandidatinnen von der CDU aufgestellt wurden. 6 dieser 8 Frauen stehen allerdings auch auf dem Listenvorschlag. Sollten sie direkt gewählt werden, würden Männer von der Liste nachrücken.

Mehr Frauen ins Parlament oder in aussichtsreiche Kandidaturen bringt dieser Vorschlag im Ergebnis nicht. Machterhalt und Männerdominanz – sie haben einen langen Atem.

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ist Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes. Sie lehrt und forscht an der FH Dortmund zu Sozial- und Antidiskriminierungsrecht sowie zum Recht der Geschlechter­verhältnisse.

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