Freundschaft heute: Eine Familie von Freiwilligen

Keine Kinder. Keine Geschwister. Können Freunde Verwandte ersetzen? Oder hört beim Geld die Freundschaft tatsächlich auf?

Das Wichtigste in einer Freundschaft ist die seelsorgerliche Hilfe, das Zuhörenkönnen Bild: dpa

Das ist der Ernstfall: Lisa Feilbach*, 58, erkrankt an Krebs. Ihr Mann ist kurz zuvor verstorben, Kinder hat sie nicht. Die alte Mutter ist im Pflegeheim. Nur ein Bruder lebt noch irgendwo im Ausland. Und die Freundinnen sind noch da. Drei gute Freundinnen, um genau zu sein.

Die Frauen organisieren ein kleines Netzwerk. Sie sprechen sich ab bei den Besuchen im Krankenhaus. Eine Freundin hat nachts immer ihr Handy an, falls die Kranke jemanden sprechen möchte. Zwei Kolleginnen melden sich regelmäßig. Eine Nachbarin bietet Hilfe nach der Krankenhausentlassung an. Eine Freundin plant mit Feilbach einen Kurzurlaub.

„Nur so kann Freundschaft im Notfall funktionieren“, sagt der Berliner Psychotherapeut Wolfgang Krüger, der das Buch „Wie man Freunde fürs Leben gewinnt“ veröffentlicht hat, „die Belastung muss auf mehrere Schultern verteilt werden“.

Die Frage, ob Freundschaften auch in schlechten Zeiten halten, ist in den Mittelpunkt der Forschung gerückt. Denn bisher waren vor allem die Ehepartner oder die erwachsenen Kinder dafür da, wenn es wirklich zur Sache ging bei Krankheit, Trennungen, Verarmung. Doch gerade in den Metropolen sind viele Ehen zerbrochen und neue Partner nicht in Sicht. Die Kinder und die Geschwister leben in einer anderen Stadt oder sind erst gar nicht vorhanden. Bleiben nur die FreundInnen.

Freiwillige Bindung

„Freundschaft ist im öffentlichen Diskurs um die Zukunft der bundesrepublikanischen Gesellschaft zum Fluchtpunkt sozialer Hoffnungen geworden“, schreibt der Hamburger Soziologe Janosch Schobin in seinem gerade erschienenen Buch „Freundschaft und Fürsorge. Bericht über eine Sozialform im Wandel“. Schobin fragt: „Warum sollten nicht Freunde unsere Nächsten sein, wenn es um unsere Bedürfnisse nach sozialer Unterstützung geht?“

Tja, warum nicht, zumal in einer alternden Gesellschaft? Doch im Unterschied zur Verwandtschaft gilt eine Freundschaft als freiwillige Bindung, die leicht kündbar ist. Deswegen ist die Frage der Fürsorge, also auch der Verpflichtung und Opferbereitschaft, so heikel.

Schobin untersucht, inwieweit Freundschaften halten, wenn es der Unterstützung durch Geld bedarf, der Sorge im Falle von Krankheit und Pflegebedürftigkeit, der Hilfe in seelischer Not. Schon beim Geld fängt das Problem an, genauer gesagt, hört bei Geld angeblich die Freundschaft auf, besagt ein alter Spruch. Von den Menschen, die aus ihrem privaten Umfeld finanzielle Unterstützung bekommen, kriegt nur jeder 15. Geld von FreundInnen, berichtet Schobin. Unter den 50-Jährigen zum Beispiel verleihen die Leute nur „manchmal“ bis „nie“ Geld an FreundInnen.

Schobin, der 26 Interviews zum Thema Freundschaft führte und 20 Freundschaftsratgeber wälzte, machte dabei unterschiedliche Techniken aus, wie man mit Geldverleih oder Schenkungen ein bisschen Fürsorge leistet im Freundeskreis. Da ist die betuchtere 68erin, die ihrer Freundin mit Hartz-IV-Bezug einmal im Jahr Geld gibt, das aber in einen bunten Umschlag verpackt und mit einer Karte versieht – die Fürsorge wird „verkleidet“ als Geschenk.

Unterstützung bei Krankheit

Bei kleineren Darlehen gibt es unter FreundInnen oft eine gewisse „Unschärfe“ über den Zeitpunkt der Rückzahlung. Da kann sich beim Verleihenden aber schnell Unbehagen einstellen. Bei größeren Darlehen bietet sich die „Trennungsmethode“ an: Geld wird an Freunde verliehen, aber nur mit schriftlichem Vertrag, um den zinslosen Privatkredit von der Freundschaft zu trennen.

Zur Fürsorge in Freundschaften gehört die Unterstützung bei Krankheit. Die vorübergehende Hilfe und Krankenhausbesuche sind entscheidende „Marker“, die eine Freundschaft als stützend definieren. Doch nur etwa jeder Vierte würde die FreundInnen um Hilfe bitten, wenn man durch Unfall oder Krankheit der Pflege bedürfte, schreibt Schobin. Dieser Anteil steigt mit den Lebensjahren. In jedem achten Haushalt mit einer pflegebedürftigen Person beteiligen sich zwar auch Freunde an der Betreuung, kaum aber an der direkten Körperpflege.

Um eine Freundschaft als „fürsorglich“ zu empfinden, spielt die praktische Hilfe an Wendepunkten im Leben eine wichtige Rolle. Daher kommt der Unterstützung beim Renovieren der neuen Wohnung oder beim Umzug auch eine symbolische Bedeutung zu. Die Patenschaft für die Kinder, das Gratulieren am Geburtstag, die Einladungen an Feiertagen sind weitere „Marker“. Solche Kodierungen geben Sicherheit. Denn immerhin ist die Hälfte der aktuellen FreundInnen nach sieben Jahren wieder aus dem Leben verschwunden, berichtet Krüger.

Mit das Wichtigste in einer Freundschaft ist die seelsorgerliche Hilfe, das Zuhörenkönnen, auch wenn einem die Probleme der Freundin zum Hals raushängen. Das vertrauliche Gespräch ist „die zentrale fürsorgliche Praxis der Freundschaft“, meint Schobin. Zu dieser Vertrautheit gehört übrigens auch das gemeinsame Schweigenkönnen.

Im Gespräch bewegt man sich auf einem schmalen Grat zwischen verbaler Unterstützung, dem „pep talk“, und einer gewissen Notwendigkeit, manchmal auch unangenehme Wahrheiten zu sagen. Schobin zitiert dazu einen düsteren Friedrich Nietzsche: „Ja, es gibt Freunde, aber der Irrtum, die Täuschung über dich führte sie dir zu; und Schweigen müssen sie gelernt haben, um dir Freund zu bleiben; denn fast immer beruhen solche menschlichen Beziehungen darauf, dass irgendein paar Dinge nie gesagt werden, ja, dass an sie nie gerührt wird: Kommen diese Steinchen ins Rollen, so folgt die Freundschaft hinterdrein und zerbricht.“

Gemeinsame Geschichte

So weit sollte es nicht kommen, zumal es Vorarbeit braucht und zeitliche Investition, um überhaupt fürsorgliche FreundInnen zu gewinnen. Um Verbindlichkeit zu schaffen, „müssen drei Kriterien erfüllt sein“, sagt Krüger. Zum Ersten muss es sich um „Herzensfreundschaften handeln“. Vertrauliche Gespräche, emotionale Öffnungen definieren diese Bindungen.

Zum Zweiten sollte es möglichst eine gemeinsame Geschichte geben, in der man sich gegenseitig geholfen, zugehört und gestützt hat. Das kann die Hilfe bei einer Diplomarbeit sein, der Beistand bei einer Trennung, bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Drittens muss eine Freundschaft „konfliktfähig“ sein, so Krüger. Bewältigte Konflikte untereinander wie etwa Kränkungen, die aber nicht zum Kontaktabbruch führen, schmieden langfristig zusammen und machen die Freundschaft besonders wertvoll.

Doch all diese Marker und wechselseitigen Versicherungen ersetzen nur teilweise die Hilfe innerhalb einer Familie, deren Kodes der moralischen Verpflichtung viel stärker sind. Daher könne die Idee nicht ohne Weiteres funktionieren, im Alter in ein Mehrgenerationenhaus zu ziehen und die Fürsorge nichtverwandter Jüngerer zu genießen, gibt Krüger zu bedenken.

„Die fundamentale Voraussetzung für ein […] Leben im Kreis der Freunde wird bis auf Weiteres die Fähigkeit zur Selbstsorge bleiben“, glaubt auch Schobin. „Diejenigen, die darüber hinauszugehen wünschen, begeben sich auf schwieriges, unbestelltes Terrain.“

Am Ende des Lebens besteht die stützende Freundschaft dann vielleicht auch darin, sich über die optimale Selbstfürsorge auszutauschen, sich Gesundheits- und Ernährungstipps zu geben, geduldig zuzuhören beim Thema Arthrose, Bluthochdruck und Bandscheibenvorfall. Die Fremdfürsorge leistet dann eine bezahlte Gesundheits-, Psycho- und Wellnessindustrie. Der Austausch über die Leiden schafft dann immer noch ein Gefühl von Geborgenheit. Erst recht, wenn man zu gebrechlich wird, um die FreundIn im Krankenhaus oder zu Hause überhaupt noch zu besuchen.

Wolfgang Krüger: „Wie man Freunde fürs Leben gewinnt“. Herder, 192 Seiten, 9,95 Euro

Janosch Schobin: „Freundschaft und Fürsorge“. Hamburger Institut für Sozialforschung, 264 Seiten, 30 Euro

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