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Friedenspreis für Osteuropa-HistorikerDie Zeichen der Zeiten lesen

Jahrzehntelang erforschte er die russische Gedankenwelt: Der Historiker Karl Schlögel erhält zu Recht den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Für viele wurden die Versprechen der Globalisierung wohl nicht eingelöst, wie hier 1989 in Moskau Foto: Ulrich Wüst

Dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2025 wird Karl Schlögel nicht ganz ohne Bangen entgegengeschaut haben. Denn er ist noch etwas anderes als die vielen Auszeichnungen, die der 77-Jährige für sein wissenschaftliches und literarisches Lebenswerk bereits bekommen hat. Der „Friedenspreis“ gilt seit 1950 als Indikator und Katalysator der politischen und geistigen Entwicklung der Bundesrepublik, seit 1990 des wiedervereinigten Deutschlands. Es ist ein Preis mit internationaler Reichweite und Bedeutung. Jedenfalls liegt eine Verantwortung (ein Hauch von „Staatsraison“) darauf, der Preisgeber wie Preisträger gerecht werden müssen.

Die Jury des Friedenspreises ist in den letzten Jahren ziemlich mutig vorangegangen. 2022, als der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, wählte sie 2022 Serhij Zhadan, den Dichter-Sänger-Kämpfer aus Charkiw, der jetzt die Uniform seines Landes trägt. Eine entschiedene Parteinahme, wie man sie der Bundesrepublik fast schon nicht mehr zugetraut hatte. Dass diese Wahl von einigen in Zweifel gezogen wurde – ein Friedenspreisträger, der zum bewaffneten Widerstand aufruft! –, war dabei „eingepreist“. Ähnlich wie im Fall der amerikanisch-polnischen Historikerin Anne Appelbaum, die 2024 geehrt wurde.

Der Autor

Gerd Koenen ist Autor der Bücher „Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus“ und „Im Widerschein des Krieges. Nachdenken über Russland“ (2023).

Nun also Schlögel. Bei aller erwartbaren Kritik – was ist mit Gaza, Sudan, Klimawandel oder Migration? – ist diese Entscheidung für Karl Schlögel ein Zeichen zur richtigen Zeit. Putins Versuch, die Ukraine militärisch zu annektieren und die mühsam etablierte europäische Staatenordnung komplett einzureißen, ist noch immer der entscheidende Konflikt der Gegenwart. Er hat das Potenzial, einen Weltkrieg auszulösen. Ein Unterwerfungsfrieden, den Putin der demokratischen Ukraine (unter Assistenz der USA und Europas) diktierte, wäre ein Präzedenzfall für den weiteren Einsatz von kriegerischen Mitteln auf allen Gebieten.

Im Übrigen ist Schlögel nicht einfach jemand, der „Position bezieht“. Der Friedenspreis des Buchhandels gilt, wie die Begründung klarstellt, einer Lebensleistung, die neue Dimensionen und Blickachsen eröffnet hat. Das betrifft auch die Bereitschaft des Osteuropa- und Russlandhistorikers zur schmerzlichen Selbstrevision, die er nach der Annexion von Krim und Beginn des Kriegs im Donbass 2014 bekundete. Mit unerschöpflicher Energie. Und zwar durch Hinfahren, Anschauen, Witterung Aufnehmen (zum Beispiel im umkämpften Donezk), um so frisch gewonnene Eindrücke mit früheren Beobachtungen zu vergleichen, die Schlögel in Reportagen, archäologischen Städtebildern und Geschichtspanoramen entfaltet hatte.

Unsere blinden Flecken mit Wissen füllen

Durch seine bereits 2015 erschienene Essay- und Reportagensammlung „Entscheidung in Kiew“, die viele erst im Jahr der russischen Invasion 2022 als „Buch der Stunde“ entdeckten, hat er entscheidend daran mitgewirkt, den blinden Fleck, den die Ukraine in unserer „mental map“ bis dahin bildete, mit Wissen zu füllen. Er hat uns diese sich formende und findende östliche Nation als vielgestaltiges „Europa im Kleinen“ nähergebracht. Und er erinnerte daran, wie sehr die Wahrnehmung der Ukraine als gestalt- und herrenloser „Lebensraum“, als Rohstoff- und Arbeitskraftreservoir den düstersten Erbschaften großdeutsch-imperialer Weltmachtansprüche entsprang. Durch die brennende Ukraine, vorbei an den Massengräbern ihrer jüdischen Bewohner und den verrottenden Leichen getöteter Rotarmisten und Zivilisten, sind viele unserer (Ur-)Großväter, Onkel und Väter im Zuge des „Russlandfeldzugs“ der Wehrmacht nach Stalingrad und weiter in den Kaukasus marschiert – Schlögels Vater ebenso wie Verwandte von mir. Von vielen derer, die heute um eines angeblichen „Weltfriedens“ oder „deutscher Interessen“ willen Kyjiw lieber den großrussischen Ansprüchen Putins als „Reichsprotektorat“ überlassen würden.

Die Preisverleihung

Der diesjährige Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wird Karl Schlögel am 19. 10. in einem Festakt in der Frankfurter Paulskirche verliehen. Die Laudatio hält Katja Petrowskaja. Das ZDF überträgt live ab 11 Uhr.

Diese Neujustierung des Blicks hat Schlögel aber keineswegs, wie der Staatssender Russia TV 2015 giftete, von einem anerkannten Russlandkenner in einen fanatischen Russlandverächter verwandelt. Es ist genau umgekehrt: Kaum jemand dürfte sich über vier Jahrzehnte hinweg mit solch lebensgeschichtlicher Energie und Leidenschaft in die russische und die sowjetische Welt vertieft und ihren zwischen „Traum und Terror“ oszillierenden Faszinationen überlassen haben wie er.

Schlögel hat die im großstaatlich-imperialen Zwangsrahmen ausgebildeten Lebenswelten unermüdlich per Bahn, Bus, als Anhalter und zu Fuß erkundet, staunend betrachtet und eingehend beschrieben. Mit unerschöpflicher Wissbegierde hat er sich in Archivalien und Zeitungen, philosophische und literarische Texte, Kunstwerke und Alltagsgegenstände, architektonische Entwürfe und Hinterhofrealitäten, in Bilder und Musik, individuelle Schicksale oder administrative Strukturen vertieft und all dies miteinander verknüpft.

Sankt Petersburg als Laboratorium der Moderne

Durch ihn haben wir 1984 „Moskau lesen“ gelernt. 1987 Sankt Petersburg als „Laboratorium der Moderne“ entdeckt. 1998 Berlin als den einstigen „Ostbahnhof Europas“ kennengelernt. Und 2007 das tragisch-pandämonische „Moskau 1937“ durchmessen und (wie Bulgakows Margarita) aus der Vogelperspektive betrachtet.

Aber inmitten der Arbeiten an diesen Großpanoramen hat Schlögel immer auch die Gunst des historischen Augenblicks zu nutzen gesucht, um die Wege und Formen festzuhalten, in denen sich nach 1990 das zuvor geteilte Europa inmitten der Energieströme einer sich globalisierenden Welt neu organisierte.

Er forschte den von niemandem gelenkten sozialen Kriechströmen nach, die auf einem freien Feld im litauischen Marjampole Mitte der 1990er Jahre einen gigantischen transkontinentalen Autobasar schufen. Und im „Wunder von Nishnij“ setzte er darauf, dass die Summe der kleingewerblichen Aktivitäten in den Städten an der Wolga auf deren Wiederbelebung als russischer Lebensader hinauslaufen könne, ja müsse.

Putins krimineller Feldzug gegen die Ukraine ist auch eine Selbstzerstörung Russlands

War dies blauäugiger Enthusiasmus – oder ein Vorschein von Entwicklungen, die historisch sehr wohl möglich gewesen sind? Erst das Einschwenken Russlands unter der Ägide Putins und seiner kleptokratischen Machtkohorte auf den fatalen Weg devisenträchtiger Energie- und Rohstoffexporte, innerer Gleichschaltungen und äußerer Expansionen hat die Pfade in eine bessere Zukunft für Russland und seine unmittelbaren Nachbarn verschüttet.

1991 kollabierte das Imperium

Eben deshalb hat Karl Schlögel im Jahr 2017 die herkulische Anstrengung noch einmal auf sich genommen, ein Gesamtbild des unter tragischen Opfern und Verlusten geschaffenen und 1991 kollabierten Imperiums zu entwerfen, unter dem fast provokanten Titel „Das sowjetische Jahrhundert“. Diese epische „Archäologie einer untergegangenen Welt“ ist in vielem auch ein Requiem auf die katastrophal vernichteten Kulturleistungen, die – trotz oder sogar wegen aller Repressionen – in diesem Land der vielen Völker erbracht worden sind, auf die vernichteten Leben und Menschen, die das getan und getragen haben. Den Anstoß, dieses große Werk zu schreiben, hat Putins krimineller Feldzug gegen die Ukraine geliefert, der auch eine Selbstzerstörung Russlands und seiner eigenen Vielgestaltigkeit ist.

So kam es auch, dass ich im Frühsommer 2015 in Dnipropetrowsk (dem heutigen Dnipro) am Rande einer Tagung über den „Holocaust in der Ukraine“ zwei Abende lang hinter Karl hergerannt bin, während er mit seinem Radarblick die ihm vertraute Stadtlandschaft noch einmal im Eilschritt einscannte und überprüfte. Er steuerte zielsicher die frühere „Insel der Jugend“ an (eine Komsomol-Hinterlassenschaft), um an den Buden noch ein Bier zu trinken und auf die halb erleuchteten Hüttenwerke gegenüber zu schauen, über denen ein künstlicher Mond (ein Kunstwerk) hing.

Dort hinüber wollte er am nächsten Tag frühmorgens mit der Straßenbahn fahren, um zu schauen, was in diesem einstigen Zentrum der sowjetischen Schwer- und Rüstungsindustrie noch in Betrieb war und wo die Stadt in die Dörfer und Felder überging. Anhand seiner verstreuten Hinweise bekam ich zumindest eine Ahnung davon, wie viele Zeitschichten und Entwicklungsströme hier zusammengeflossen sind – die er in seinem Porträt einer „Rocket City am Dnjepr und Potjomkins Stadt“ entfaltet hat.

Solche Ausgänge aus selbst verschuldeter Ahnungslosigkeit hat der Träger des diesjährigen Friedenspreises uns allen eröffnet.

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