Fringe-Festival in Edinburgh: Weltklasseartisten auf der Straße

Die Festivals in der schottischen Stadt sind ein kultureller Anschlag auf die Sinne. Beim alternativen Festival Fringe sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt.

Ein mit Messern jonglierender Mann auf einem Einrad sowie viele Zuschauer

Der Straßenkünstler Vaughn auf dem Einrad beim diesjährigen Fringe-Festival in Edinburgh Foto: Andrew Milligan

Poppy, Isabelle und Sophie amüsieren sich köstlich an der Bar des Venue 13 in der Chambre Street. Die Location mit verschiedenen Bühnen ist eines der Veranstaltungszentren des Festival Fringe in Edinburgh. Die jungen Frauen trinken Real Ale und Cider und diskutieren heftig über das Thea­terstück „Probably Still Drunk“, das sie gerade gesehen haben. Sie kämen jedes Jahr für mindestens eine Woche zum Fringe-Festival nach Edinburgh, erzählt Poppy, die eine rosa Schleife im blonden Haar zur schwarzen Smokingjacke über getigerter Röhrenhose in pinkfarbenen Regenstiefeln trägt. Glasgow-Style, denn von dort kommen die drei.

Poppy, Isabelle und Sophie sind einer der zahlreichen Frauentrupps, die das Straßenbild der Stadt aufpeppen: körperbetont, aufgeplüscht, aufgekratzt. Die drei Frauen besuchen „mindestens zwei Shows täglich“, erzählen sie. Die Tickets für das Fringe-Festival kosten meist nur ein paar Pfund, die ersten Vorstellungen beginnen frühmorgens, die letzten enden spätabends und dauern selten länger als eine Stunde.

Männer, Frauen, junge und alte Paare, StudentInnen und Familien – Edinburgh im August, das ist ein internationaler und sozialer Schmelztiegel. Bunt, vielfältig, populär und garantiert unterhaltsam. Claire und Paul aus Frankreich haben sich vor 40 Jahren hier kennen gelernt. Zum 70. Geburtstag des Festivals ist das Ehepaar wieder dabei. „Es ist immer wieder großartig“, sagt Claire, die Englischlehrerin aus Lille. Auf dem internationalen Festival haben sie gestern „Blak Whyte Gray“, eine Tanztheater-Performance aus London, gesehen. „Einfach brillant!“, kommentiert Paul.

Die ganze Stadt eine Bühne

Im August kommen Hunderttausende aus der ganzen Welt, aber vor allem aus den Commonwealth-Ländern nach Edinburgh. Sie besuchen dann die alljährlich im August stattfindenden Kunst-, Literatur- und Theaterfestivals. Gedrängel auf der High Street, dem Campus, an der Waverley Station. Der touristische Hotspot Edinburgh platzt aus allen Nähten. Und die EdinburgherInnen mischen munter mit: 84 Prozent, sagen die Umfragen, gehen zu den Festivals.

Events: Der August ist der Festivalmonat im schottischen Edinburgh. Im Jahr 1947 wurde das Edinburgh International Festival für Kunst und Kultur gegründet, gleichzeitig entstanden das alternativere Festival Fringe und das Edinburgh Film Festival. Jedes Jahr im August findet dort auch das International Book ­Festival mit mehr als 800 Teilnehmern aus 55 Ländern rund um den Globus statt. Hinzu kommen: International Science Festival, Jazz & Blues Festival, Art Festival, International Children’s Festival. www.edinburghfestivalcity.com

Übernachtung: Übernachtungsmöglichkeiten für den Monat August müssen rechtzeitig gebucht werden! Günstig und zentral: Ibis Hotel oder Bed and Breakfast in der Nähe des Hauptbahnhofs und des Flug­hafens, nahe dem Grassmarket mit seinen zahlreichen Geschäften und Bars sowie unweit der Royal Mile, die hinauf bis zum berühmten Edinburgh Castle führt.www.budgetplaces.com/de/edinburgh/liste-von-guenstigen-bed_and_breakfast/

Empfehlenswert: Kleine ­Apartments wie im neuen Eden Locke in der zentral gelegenen George Street sind mit kleiner Küche sehr gut ausgestattet. Das Eden Locke liegt gleich neben dem International Book Festival.www.lockeliving.com/eden-locke/

Die Reise wurde unterstützt von den Festivals Edinburgh.

Das Edinburgh International Festival und das Festival Fringe feiern dieses Jahr ihr 70. Jubiläum. Das Edinburgh Interna­tio­nal Festival entstand 1947, um Europa nach den traumatischen Kriegserfahrungen wieder zu verbinden. Doch nicht alle Künstler, die damals teilnehmen wollten, wurden zum subventionierten internationalen Festival eingeladen. Sie kamen trotzdem und organisierten einfach ein Festival „drumherum“: Fringe. Dieses Fringe-Festival gibt es bis heute, und bis heute kann dort jeder auftreten. Kein Wunder, dass die Zahl der Veranstaltungsorte unendlich scheint.

Doch das Schöne an Edinburgh ist nicht nur das Schloss, das geschichtsträchtig auf einem Felsen im Zentrum der Stadt steht, auch nicht die verwinkelten Altstadtgassen oder das Harry-Potter-Feeling, das Schöne ist, dass alles zu Fuß erreichbar ist. Und so lernt der Festivalbesucher auf der Suche nach den gut ausgeschilderten Veranstaltungsorten Hinterhöfe, alte Fabriken, Villen, Thea­ter- und Kongresszentren, alte Universitätshallen, private Gartenanlagen, verborgene historische Winkel kennen, die er sonst niemals gesehen hätte. Die Stadt öffnet sich, bietet neue Facetten an ungewöhnlichen Orten. Die ganze Stadt ist eine Bühne.

Shona McCarthy

„Fringe ist das einzige Festival, das mich interessiert. Es ist es eine demokratische Form der Kultur“

Theater, Zirkus, Musik, Comedy, Performance. „3.398 Shows aus 62 Ländern nehmen dieses Jahr allein an Fringe teil“, sagt die Generalmanagerin von Fringe, Shona McCarthy, in ihrem geschäftigen Büro in der High Street. „Wir als Festivalorganisation kümmern uns nur um die Infrastruktur, den Rahmen. Wir haben hier ein Team, das Teilnehmerservice genannt wird. Es ist das ganze Jahr über tätig. Unsere Aufgabe ist es, Leute zu unterstützen und einzuweisen, die am Festival teilnehmen wollen. Wir machen auch PR und Promotion.“ Die TeilnehmerInnen zahlen einen kleine Regis­trierungsgebühr. Fringe ist eine Art etabliertes Straßenfestival.

700 kostenlose Shows

„Es ist das einzige Festival, das mich interessiert“, betont Shona. „Für mich ist es eine demokratische Form der Kultur. Es gefällt mir, dass wir 700 kostenlose Shows haben, dass Weltklasseartisten auf der Straße auftreten. Leute mit viel oder weniger Geld können an unserem Festival teilhaben.“ Shona arbeitet seit 30 Jahren im Kulturbereich und sieht persönlich „keine Notwendigkeit mehr, mich mit der Kommerzialisierung herumzuschlagen. Und ich bin auch froh, dass wir nicht auf öffentliche Gelder angewiesen sind. Das gibt uns viel Freiheit.“

Stefano Modica Ragusa ist zuständig für die Pressearbeit des Festivals. „Das Fringe-Festival passiert einfach. Jeder kann daran teilnehmen“, sagt er. „Für die Künstler ist es eine gute Plattform, um bekannt, gesehen und interviewt zu werden.“ Überall in der Innenstadt verteilen die Amateur- und Profi­künstlerInnen selbst Flyer, um für ihre Auftritte zu werben.

„Wenn ihnen unser Stück gefallen hat, erzählen sie es weiter, damit wir den Rückflug nach Australien zusammenbekommen“, sagen Jeffrey Jay Fowler und Chris Isaacs aus dem aus­tra­li­schen Perth nach ihrer großartigen Zweimannshow „Flag/Stag“ im Underbelly am Cowgate. Ihr kurzweiliges Alltagsstück über die Untiefen einer Männerfreundschaft bekommt langen Applaus.

„Fringe ist für uns eine großartige Möglichkeit, viele andere Stücke zu sehen“, sagt Jeffrey. „Es bringt uns auf neue Ideen, und es bietet Künstlern jenseits der etablierten Bühnen Möglichkeiten.“ Wie die meisten KünstlerInnen spielen sie ihr Stück 25 Tage lang, immer zur selben Zeit am selben Ort. „Es ist ungewohnt, jeden Tag aufzutreten ohne einen freien Tag. An manchen Tagen fällt einem die Show schwer“, gesteht Jeffrey. „Manchmal sind die Zuschauer ausgelassen und unterstützend, manchmal muss man darum kämpfen, sie zu gewinnen. Es ist auf jeden Fall eine Herausforderung für die Darsteller.“

Liebeserklärung an den menschlichen Körper

Auf dem Campus der Universität von Edinburgh gibt es gleich mehrere Veranstaltungszelte, Streetfood reiht sich an Streetfood, Cocktailbar an Cocktailbar. Hier im Zelt auf der großen Wiese wird „Circa: Humans“ aufgeführt. Eine Artistenshow, eine Liebeserklärung an den menschlichen Körper, ein akrobatisches Spiel. Die zehn AkrobatInnen zeigen atemberaubende körperliche Leistung. Sie sind die „Rockstars der Zirkuswelt“, schreibt der Guardian.

Alles begann 1947: Das Edinburgh International Festival als Plattform für Kunst und Kultur sollte die Zusammengehörigkeit Europas nach der Zerstörung des Kriegs betonen. Darum gehe es auch heute noch, auch und erst recht nach dem Brexit-Votum, sagt Fergus Linehan, der Direktor des Internationalen Festivals. „In einer Zeit, in der unser Land dabei ist, sich aus dem großen europäischen Projekt zu lösen, ist es schon etwas Besonderes, für eine Institution zu arbeiten, deren Fundament gewissermaßen die genau gegensätzliche Idee ist.“

Linehan hofft, dass der bevorstehende Abschied aus der EU es nicht erschwert, in den kommenden Jahren KünstlerInnen vom Kontinent zu diesem Festival nach Schottland zu locken und, falls nötig, Visa für sie zu erhalten.

Probleme gab es schon dieses Jahr: Conchita Wurst, die österreichische Bühnendiva, hatte ihren Auftritt am diesjährigen Festival abgesagt, weil drei Syrern ihrer Begleitband das Visum versagt wurde. Dass der Auftritt ausgerechnet an Visaentscheidungen scheiterte, kritisiert Festivaldirektor Fergus Lineham: „Die Symbolik dieser Entscheidung ist wirklich furchtbar. Gerade wegen der Zielsetzung des Projekts ist das besonders frustrierend.“ Das Festival wolle eigentlich zeigen, „wie unterschiedliche Menschen die kulturelle Geografie eines Orts bereichern können“.

Aber vielleicht bleibt Schottland ja sowieso in der EU, als unabhängige Nation. Ein Thema, das wie der Brexit und die Dummheit eines Donald Trump Steilvorlage für die politischen Kabarettisten in Edinburgh ist. Den zweiten Platz in „Dave’s Funniest Joke of the Fringe“-Contest (den besten Witz) gewann der schottische Komiker Frankie Boyle: „Trump ist doch kein Hitler. Er könnte niemals ein Buch schreiben.“

Die Qual der Wahl

Die Hotels von Edinburgh sind im August ausgebucht. Die vielen Pubs mit und ohne Livemusik sind nicht nur am Abend voll, in vielen Restaurants muss reserviert werden. Aber eigentlich haben die FestivalbesucherInnen nur ein Problem: die Qual der Wahl unter täglich 1.000 Shows und 25.000 Künstlern aus aller Welt.

Die Festivals sind ökonomisch bedeutsam für die Stadt, sie bringen mehr als 313 Mil­lionen Pfund und schaffen 6.210 Vollzeitstellen. Und fördern die internationale Reputation von Schottland und Edinburgh. Identitätsstiftend. Um dieser Tatsache den würdigen Rahmen zu geben, marschiert jeden Abend zur Festivalzeit im August das Royal Regiment of Scotland durch den riesigen Schlosshof: Bis zu 8.000 ZuschauerInnen finden sich dann Abend für Abend auf den großen Tribünen ein, um die Royal Edinburgh Military Tattoo zu sehen.

Sie kommen zu Fuß oder werden in Bussen herangekarrt. Zu den nicht enden wollenden Klängen von „Amazing Grace“ gibt es Militärparaden in Schottenröcken und mit Dudelsack. Historische militärische Großtaten werden mit Tanzeinlagen demons­triert. Schottische Tradition als geschäftstüchtiger, kultureller Mainstream im Strudel des großen internationalen Festivalspektakels mit täglichem Feuerwerk. Es ist unbedingt ratsam, das Schloss ab 20 Uhr weiträumig zu umgehen.

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