Frühe Liebesbriefe Anna Seghers: Übungen in Selbstständigkeit
Die frühen Liebesbriefe von Anna Seghers sind Zeugnisse aus einer Zeit, bevor sie weltberühmt wurde. Nun erscheinen sie in einem Sammelband.
Als ich aufwuchs in der DDR, war Anna Seghers ein Denkmal zu Lebzeiten. Eine kleine alte Frau mit einem weißen Dutt, die als eine der wenigen im Land Weltliteratur geschrieben hatte und 26 Jahre Präsidentin des Schriftstellerverbandes war. Im Jahr meines Abschlusses der 10. Klasse war ihr Roman „Das Siebte Kreuz“ eines der Prüfungsthemen. Ich wählte es, aber der Roman berührte mich, wie alle verordnete Schullektüre, damals nicht besonders. Erst die Essays Christa Wolfs über Anna Seghers’ und Heiner Müllers Bearbeitungen ihrer Stoffe weckten mein Interesse für ihr Werk.
Der Roman „Transit“ und „Der Ausflug der toten Mädchen“ sind zwei Bücher, die ich immer wieder lese. Der Mensch Netty Radványi, der sich hinter dem Pseudonym Anna Seghers verbarg, blieb unsichtbar, denn es gab nur wenige öffentliche Selbstzeugnisse über Privates. Als ich im Herbst 1989 das Anna-Seghers-Stipendium bekam, fuhr ich in ihr Museum, das bis heute in ihrer ehemaligen Wohnung in Berlin-Adlershof untergebracht ist.
Mir wuchs das Leben als alleinerziehende Mutter eines Säuglings über den Kopf, ich brauchte Ermutigung und suchte nach Dokumenten darüber, wie es ihr als schreibender Mutter in viel existenzielleren Situationen als meiner gegangen war.
Innige Familienfotos, aber distanziert
Man zeigte mir ein paar Familienfotos. Es ging etwas sehr Inniges von ihnen aus und doch blieb etwas wie Distanz zwischen Seghers und ihren Kindern. Auf dem Rückweg gingen mir nacheinander zwei Räder des vom Sperrmüll stammenden Kinderwagens kaputt. Sie verloren ihre Speichen, eine nach der anderen. Ich balancierte den Wagen mit dem Säugling auf zwei Rädern nach Hause und nahm es als Zeichen, dass es nicht einfach werden würde, aber auch nicht aussichtslos war.
Manchmal dauert es, ehe dann doch private Zeugnisse über ein Leben auftauchen, mit denen niemand mehr gerechnet hat. Als Anna Seghers’ Sohn Peter „Pierre“ Radvániy 2021 95-jährig in Paris starb, fand sich in seinem Nachlass ein Konvolut von 470 Briefen, Postkarten und Telegrammen, eingeschlagen in Zeitungspapier der frühen 1920er Jahre.
Anna Seghers: „Ich will Wirklichkeit“. Liebesbriefe an Rodi 1921 – 1925; Hrsg. Christiane Zehl Romero, Jean Radványi. Aufbau Verlag, Berlin 2015, 405 Seiten, 28 Euro
Es waren Briefe Netty Reilings an ihren gleichaltrigen Freund, den Philosophiestudenten László Radványi, „Rodi“, den sie im Frühling 1921 als 20-jährige Studentin der Kunstwissenschaft in Heidelberg kennengelernt hatte. Vier Jahre, von Beginn der Bekanntschaft bis zum 3. August 1925, kurz vor ihrer Hochzeit, wechseln sie Briefe, wenn sie räumlich getrennt sind. Und das sind sie oft.
Briefe von überall an Rodi
Netty schreibt aus der Kaiserstraße 34 in Mainz, wo ihre Familie wohnt, aus Untermietzimmern in Köln, Hotelzimmern im „Adlon“ in Berlin, aus Paris oder aus Kurorten wie Karlsbad oder Seebädern wie Norderney oder Scheveningen. Rodis Briefe sind nicht überliefert.
Die beiden kommen aus sehr unterschiedlichen Welten. Während László in einer aufgeklärten Budapester Kaufmannsfamilie aufwächst, die einer liberalen Strömung des Judentums angehört, und als Mitglied des revolutionären Kreises um Georg Lukácz nach der gescheiterten ungarischen Räterepublik aus Ungarn fliehen muss, ist sie die behütete Tochter einer angesehenen jüdischen Familie von Kunsthändlern in Mainz, die ihre Religion konservativer auslegt, was aber nicht heißt, dass Isidor Reiling seiner einzigen Tochter Bildung vorenthalten würde. Im Gegenteil.
Neben Recherchen für ihre Dissertation, die sie 1924 verteidigt, macht Netty in der Zeit ihres Briefwechsels ihre ersten literarischen Versuche, ihr Debüt erscheint 1924 in der Frankfurter Zeitung.
„Wunderschöne Dinge aus meinem Blute“
Wie ernst es ihr mit dem Schreiben ist, zeigt sich schon in einem der ersten Briefe vom 17. März 1921: „Man hat eine Sache von mir […] sehr gut gefunden u will sie event. veröffentlichen. Mir ist es gleichgültig. Ich denke manchmal, ich kann ganz wunderschöne Dinge aus meinem Blute machen. Und weil ich die Dinge mache, verblute ich ganz langsam. Die Frage ist nur, soll ich im Stillen verbluten oder vor der Welt.“
Aus den Briefen spricht eine große Zuneigung zwischen den beiden, anders hätte die Beziehung die viereinhalb Jahre, bis sie endlich heiraten dürfen, nicht überlebt.
Netty Reiling ist zerrissen zwischen Rodi und ihren Eltern, mehrmals droht die Hochzeit zu scheitern. Rodi findet als linker ungarischer Geflüchteter keine Stellung und möchte eigentlich auch keine finden, dies aber ist die Voraussetzung einer Zustimmung ihrer Eltern zur Eheschließung. Schließlich wird er Angestellter der russischen Handelsvertretung in Berlin.
Die Ablösung von ihrer Mutter Hedwig, die ihre einzige Tochter nicht loslassen kann, die Entfremdung von ihrem Vater, der Rodi, der sich dem Kommunismus zugewandt hat und ihm nicht deutsch genug ist, nicht für eine gute Partie hält und nach geeigneteren Schwiegersöhnen sucht, machen ihr schwer zu schaffen, während Lázló Radványi offenbar nicht gewillt ist, Kompromisse zu schließen.
Annas Vater ist enttäuscht von ihr
Selbst das Schreiben von Artikeln ist unter seinem Niveau. Noch kurz vor der Heirat weint Seghers’ Vater um seine Tochter. „Er war […] so schrecklich enttäuscht über Dich und ich kann nicht verhehlen, dass auch mir das sehr weh getan hat.“
Etwas gewöhnungsbedürftig sind die Anreden und Selbstbezeichnungen. So beschließt sie öfters die Briefe mit „Dein Kind“ oder nennt Rodi Vater, aber offenbar ist es andersherum auch so. Am häufigsten nennen sie sich gegenseitig Tschibi, für ungarisch Czibe – Küken. Die Kosenamen verraten schon die Schriftstellerin. Lázló ist Gutaug, Zipfelgeistlein, Burkusch, Einhornapotheker, Hammelleben, gezipfeltes Gnu, Radybub, Gutaug, Armzipf.
Zunehmender Antisemitismus
Ganz nebenbei drängen die Bedrängnisse der Zeit zwischen den Zeilen hervor. Französische Besatzung in Mainz, englische in Köln, vergebliche Zimmersuche, um dann auf eine verrückte Wirtin zu treffen, die nachts pfeift, schwierige Passangelegenheiten und Aufenthaltsbewilligungen für Rodi, verschiedene Währungen, Inflation, Mäuse in der Unterkunft, der zunehmende Antisemitismus.
Mainz wird Netty zu eng, nicht genug intellektueller Austausch im gehobenen Bürgertum, in ihrer Freizeit betreut sie Kinder in einer Mainzer Lesehalle, wo sie Verhältnisse kennenlernt, die in ihre späteren Erzählungen einfließen.
Zwischen den Zeilen geht es immer auch um Familienplanung. Netty kann sich ein Leben ohne Kinder nicht vorstellen, Rodi offenbar schon. Am Ende, der Vater hat zähneknirschend der Ehe zugestimmt und Rodi sich den vom Vater geforderten Zylinder besorgt, sind es die auf die Flitterwochen fallenden fruchtbaren Tage, die Netty überlegen lassen, die Hochzeit noch einmal um ein paar Tage zu verschieben oder die Hochzeitsreise in getrennten Hotelzimmern zu verbringen.
Was offensichtlich nichts nützte, die Hochzeit war Anfang August 1925, der Sohn Peter wurde am 29. April 1926 geboren. Zwei Jahre später folgt Tochter Ruth.
Aus ihrer Wohlbehütetheit herausgeschleudert
Was wir sehen, wenn wir die Briefe lesen, sind Übungen in Selbstständigkeit, die für ihr weiteres Leben von hoher Bedeutung sein sollten. Da lernt eine gegen alle Selbstzweifel und Unsicherheiten fürs Leben, das sie aus ihrer Wohlbehütetheit herausschleudern wird.
Wir Nachgeborenen wissen, wie es weiterging nach der Heirat. Sie geht zu Rodi nach Berlin und wird Anna Seghers. 1928 erscheint ihr erstes Buch, „Der Aufstand der Fischer von St. Barbara“, wofür sie 1929 den Kleist-Preis erhält. Zur gleichen Zeit wird sie Mitglied der KPD. 1933 kurzzeitig verhaftet, kann sie mit der Familie in die Schweiz fliehen, von da nach Paris und schließlich nach Mexiko. Mit dem Roman „Das siebte Kreuz“ erlangt sie Weltruhm.
In Mainz werden die Spuren der Familie durch Holocaust und Bombardierungen fast vollständig getilgt. Das Haus in der Kaiserstraße, Absenderadresse vieler der Briefe, gibt es nicht mehr, auch nicht die Kunsthandlung am Flachsmarkt, die Isidor Reiling 1940 verliert, was er nicht überlebt. Anna Seghers kann ihre Mutter, trotz aller Bemühungen aus dem Exil, nicht retten, sie wird deportiert und stirbt in Piaski.
Noch einmal werden sich Anna Seghers und Johann-Lorenz Schmidt, wie sich Radványi später nennt, lange Briefe schreiben, zwischen 1947 und 1952, als Rodi in Mexiko bleibt und mit einer anderen Frau lebt. Erst 1952 entschließt er sich, seiner inzwischen weltberühmten Frau in die DDR zu folgen. Von diesen Briefen sind nur wenige überliefert, die von Rodi, in denen er seine Liebe zu Netty beteuert.
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