Frühe Warnungen zu Attentäter Amri: „Der Tunesier ist islamisch radikal“

Früh warnte ein Mitbewohner die Behörden vor Anis Amri. Auch der Verfassungsschutz wusste davon – obwohl er Amri stets als „Polizeifall“ abtat.

Der Lastwagen auf dem Weihnachtsmarkt

Warnungen gab es einige – trotzdem kam es zu diesem Anschlag Foto: dpa

BERLIN taz | Es wird ein ungewöhnlicher Ausflug für Mohamed J. am Donnerstag. In den Bundestag wird der junge Syrer kommen, Saal 4.900 – in den Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag von Anis Amri im Dezember 2016. Mohamed J. ist dort als Zeuge vorgeladen. Und plötzlich wird ihm große Aufmerksamkeit zuteil.

Das war lange anders. Dabei hätte der 26-Jährige eine entscheidende Rolle spielen können, um den Anschlag von Amri zu verhindern. Denn Mohamed J. lebte im Herbst 2015 mit Amri zusammen in einer Unterkunft in Emmerich (NRW), wenige Monate nach der Einreise des Tunesiers nach Deutschland. Und J. fand den Tunesier schnell auffällig, wandte sich an einen Sozialarbeiter: Er habe auf dem Handy seines Mitbewohners „Anis“ Fotos von schwarz gekleideten Personen gesehen, mit Kalaschnikows und Handgranaten.

Der Hinweis fand seinen Weg zur Polizei: Dort erstellte man im Oktober 2015 einen „Prüffall Islamismus“. Das Problem: Amri hatte sich damals als „Mohammed Hassa“ registriert, Mohamed J. sprach nun von „Anis“. Dass es sich tatsächlich um Amri handelte, habe man damals nicht zuordnen können, beteuern Sicherheitsbehörden.

Aber Mohamed J. erneuerte seine Warnung, ein Jahr später: bei seiner Asylanhörung im Juli 2016. Auch dort berichtete er von „Anis“: „Der Tunesier ist sehr islamisch radikal.“ Er habe ein Buch gehabt mit einer IS-Flagge, habe den ganzen Tag Lieder der Terrorgruppe gehört. Und „Anis“ habe gesagt, er werde „hoffentlich bald in Syrien als Cihat kämpfen“. So steht es im Anhörungsprotokoll.

Auch der Verfassungsschutz wusste Bescheid

Diesen Hinweis nun leitete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im August 2016 weiter: an das Landeskriminalamt in Nordrhein-Westfalen und auch in Berlin, wohin „Anis“ laut Mohamed J. inzwischen verzogen war. Tatsächlich führten beide Länder Amri bereits seit dem Frühjahr als islamistischen „Gefährder“, die Behörden hatten ihn inzwischen identifiziert. Dennoch verloren sie Amri später aus dem Blick – bis dieser seinen Anschlag in Berlin verübte.

Aus Unterlagen, die die taz einsehen konnte, geht nun hervor: Der Hinweis vom August 2016 ging damals auch an das Bundesamt für Verfassungsschutz. Das bringt die Behörde einmal mehr unter Druck: Denn der Geheimdienst hatte lange beteuert, Anis Amri sei ein „reiner Polizeifall“ gewesen. Man selbst habe dazu keine eigenen Erkenntnisse gehabt.

Fritz Felgentreu, SPD

„Das wirft ein katastrophales Licht auf die Behörden“

Inzwischen ist aber klar, dass auch das Bundesamt einen V-Mann in Amris Umfeld platziert hatte: in der radikalen Fussilet-Moschee in Berlin, wo der Tunesier ein und aus ging. Und nun ist belegt, dass der Verfassungsschutz auch die brisante Meldung seines früheren Mitbewohners Mohamed J. erhielt, der vor Amris IS-Nähe warnte.

Was die Unterlagen aber auch zeigen: Offenbar blieb der Hinweis im Bundesamt vorerst liegen. Nach mehreren Weiterleitungen erreichte er erst am 19. Dezember 2016 um 12.25 Uhr die zuständige Stelle – ausgerechnet am Tag des Anschlags von Amri in Berlin. Elf Menschen starben damals, als der Tunesier mit einem Lkw in einen Weihnachtsmarkt fuhr.

Befragung hinter verschlossenen Türen

Für Fritz Felgentreu, SPD-Obmann im U-Ausschuss, zeigt der Vorgang „einmal mehr, dass die These vom reinen Polizeifall nicht haltbar ist“. „Es wirft ein katastrophales Licht auf die Behördenzusammenarbeit und den Informationsfluss im Bundesamt für Verfassungsschutz, wenn eine derart brisante Information wie die von Mohamed J. von August bis Dezember 2016 im Verfassungsschutz herumwandert, bis sie im zuständigen Referat gelandet ist.“

Auch Mohamed J. dürfte sich am Donnerstag im Ausschuss über den Umgang mit seinem Hinweis äußern. Er hatte schon zuvor beklagt, dass daraus „nichts gemacht“ wurde. Erst nach dem Anschlag sei er dazu befragt worden.

Als Zeuge geladen ist auch Lokman D. Der Syrer wohnte damals ebenfalls in Emmerich, im Nachbarraum. Und auch er wies auf verdächtige Fotos auf Amris Handy hin und dessen islamistische Aussagen. Mitbewohnern habe er ständig religiöse Vorschriften machen wollen.

Für das Bundesamt für Verfassungsschutz heikel werden könnte auch die Aussage ­eines Referatsleiters, Tarnname „Carlo Macri“. Er ist zuständig für V-Leute in der islamistischen Szene Westdeutschlands – in der sich Amri rege bewegte. Dennoch bekam der Verfassungsschutz nichts vom Treiben des Tunesiers mit? Macri wird hierzu Antworten liefern müssen. Seine Befragung indes findet hinter verschlossenen Türen statt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.